Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Punk-Rock?
Die Band singt die Terzen schief. Wie wenn es darum ginge, würde Joe sagen. Musst du immer die Lehrerin spielen? Das hat er gerne getan. Ihr das Gefühl zu geben, spießig zu sein. Sich an Dissonanzen aufzuhängen, wo es um den Inhalt geht. Marie hat nie auf Liedtexte geachtet. »Du hörst nie zu. Du bekommst so viel nicht mit«, hat Joe ihr vorgeworfen. Dabei muss sie den ganzen Tag lang zuhören. Immer für die anderen da sein, immer Ansprechpartner für zweihundert Schüler sein, Tag für Tag. Wenn man wie Joe den ganzen Tag allein auf einer Brücke steht, ist man froh, wahrgenommen zu werden. Die meisten haben ja weggeschaut. Als Lehrerin ist Marie froh, wenn einer vorbeigeht, ohne eine Frage zu stellen. Schülerfragen. Elternfragen, unangemeldet, zwischen Tür und Angel: »Ist das Fräulein Steinwedel da?« Und erst die neue Direktorin. »Eine gewisse Ordnung in den Dingen setze ich voraus!«
Was hatte Joe schon für eine Ahnung vom Leben? Wo er doch alles Geld, das er brauchte, von seinem Onkel bekommen hat. Anders als der Leadsänger, von dem Marie ahnt, dass er sich das Geld selbst verdienen muss. Ihr ist, als würde er aus ihrer eigenen Seele schreien.
Das ist kein Leben, nein, das ist Luftholen, vom Aufsteh
’
n bis zum Schlafengeh
’
n.
Ich könnte auch davonlaufen, denkt Marie. So wie Joe vor allem davongelaufen ist, sich immer gedrückt hat. Ich gehe einfach weg. Irgendwohin, wo es keinen Vater gibt und auch keinen Jakob. Keine Schüler, die sowieso nicht an meinem Unterricht interessiert sind, und keine Direktorin, die von der Ordnung in den Dingen spricht. Welche Ordnung denn?
Ja, einfach weg. Und dann? Na, Joe? Was hast du aus deinem Leben gemacht? Bist einfach gesprungen.
»Ich geh mal kurz aufs Klo.«
Marie löst sich aus Jakobs Umarmung, läuft mitten im Lied weg. Kämpft sich durch die Menge. Ist schon fast bei den Toilettenanlagen, als sie Gery in der Menge sieht. Sie will sich hinter einer Frau mit langen blonden Dreadlocks verstecken, doch er hat sie schon entdeckt, ruft ihr zu: »Marie!«
Sie nickt ihm zu, lächelt. Will weitergehen, doch da kämpft er sich schon zu ihr durch.
»Marie!«
Sie bleibt stehen.
»Mit dir hab ich hier ja gar nicht gerechnet«, sagt er.
»Ich wollte gerade aufs Klo.«
»Da hast du jetzt keine Chance.« Er zeigt auf die Schlange. »Nach dem Lied ist Pause. Gehen wir kurz hinaus?«
Marie nickt. Denkt: Jakob wird sich fragen, wo ich bin.
Gemeinsam gehen sie vor die Tür, wo schon andere in Grüppchen beieinanderstehen.
»Wie geht es dir?«
»Man lebt. Und du?«
»Ich lebe auch. Wie du siehst.« Er grinst.
Eine Weile stehen sie schweigend nebeneinander und sehen den anderen beim Plaudern und Rauchen zu.
»Ich hab einen Brief bekommen«, sagt Marie schließlich. »Eine Testamentseröffnung im Prater. Weißt du etwas davon? Ich meine, du warst doch Joes bester Freund.«
»Ich hab auch einen bekommen. Fünfzehnter Juli fünfzehn Uhr vor der Hochschaubahn.«
»Genau.«
»Es ist der Tag, an dem er … genau ein Jahr danach.«
Marie dämpft die Zigarette aus. »Manchmal werd ich das Gefühl nicht los, dass Joe irgendwo ums Eck steht und sich totlacht. Es würde so zu ihm passen.«
Sie schiebt die Zigarettenkippe mit der Schuhspitze über den Boden. Legt sich die Handflächen auf die Oberarme. Nach den überhitzten Räumen ist die Frühlingsluft kühl, zaubert ihr Gänsehaut auf die Arme.
Gery wirft seine Kippe auf den Boden, tritt darauf und zündet sich die nächste an. »Magst du auch noch eine?«
»Nein danke.« Sie sieht ihm dabei zu, wie er die Flamme aus der Hand springen lässt und an der Zigarette zieht.
»Was, wenn Joe gar nicht tot ist?«, sagt sie, als er das Feuerzeug einsteckt. »Ich meine: Stell dir mal vor, er hat sich das alles nur ausgedacht.«
»Joe ist beerdigt worden, Marie. Du warst doch selbst dabei.«
»Vielleicht war der Sarg ja leer«, sagt sie, dann: »Nein. Du hast recht, das ist Blödsinn. Joe ist gesprungen.«
»Glaub mir, der Sarg ist nicht leer. Ich war dabei, er ist gesprungen.«
»Du warst was?«
»Ich hätte nachschauen sollen, als er nicht aufgetaucht ist. Ich hab mir nichts gedacht, weißt du? Wo er dieses Spiel doch so oft gespielt hat. Ich hab ihn einfach nicht mehr ernst genommen.«
Marie bohrt ihre Fingernägel in die Haut.
»Ich war stinksauer, weil er mich hat warten lassen. Scheiße, ich hätte nicht so einfach gehen dürfen.«
Marie sieht zu der Gruppe neben ihnen. Zu den zwei
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