Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Mädchen. Fünfzehn vielleicht. Wie sie lachen. Die Burschen sind ein wenig älter. Einer packt eines der Mädchen bei den Hüften, wirbelt es herum und kitzelt es, woraufhin das Mädchen kreischt.
Wieso fühlt sie nichts. Sie könnte jetzt auf Gery eindreschen, schreien: Es ist deine Schuld! Aber da ist nur Traurigkeit. Dieselbe Traurigkeit, die sie immer gespürt hat, wenn sie mit Joe zusammen gewesen ist. Joe war keiner, der bis zum Schluss durchhält. Anfangs hat sie noch geglaubt, wenn sie nur genug für ihn da wäre, ihn lieben würde, würde es reichen. Aber es hat nie gereicht. Sie hat nur sich selbst damit kaputt gemacht.
»Klar. Irgendwann glaubt man es nicht mehr«, sagt sie. »Mich hat dieses Spiel auch immer angewidert. Er springt, taucht unter, und der andere macht sich Sorgen.« Sie zuckt mit den Schultern. »Ich muss wieder rein. Mein Freund wartet drinnen. Und aufs Klo muss ich auch.«
»Wirst du kommen?«
»In den Prater? Ich weiß nicht. Ich komm mir so blöd vor.«
»Wir könnten uns gemeinsam blöd vorkommen.«
»Ja, vielleicht.«
Sie dreht sich um. Hat die Tür schon in der Hand, als sie Gerys Stimme hinter sich hört.
»Marie?«
Sie wendet den Kopf.
»Versprichst du mir, zu kommen?«
Sie zögert, nickt schließlich.
»Also dann bis zum fünfzehnten Juli!«
Das Klobrett ist angepinkelt. Marie kippt es mit der Schuhspitze nach oben. Merkt, dass ihre Knie zittern. »Verdammte Scheiße, Joe!«, sagt sie laut. Dabei weiß sie, dass ihre Nervosität nichts mit Joe zu tun hat. Nicht nur.
Sie öffnet die Kabinentür und stellt sich vor den Spiegel. Stellt fest, dass sie rote Flecken auf den Wangen hat. Hinter ihr taucht eine Frau im Spiegel auf. Rotbraune Dreadlocks und Sommersprossen auf den Wangen. »Ist das deine?«
Marie dreht sich um.
Die Frau hält eine Handtasche an der Schlaufe in die Höhe. Wann wäre ihr aufgefallen, dass sie die Handtasche nicht bei sich hat? Die Kreditkarte. Sie hätte die Bankomatkarte und die VISA Card sperren müssen. Und das alles nur, weil …
»Danke.«
Die Frau verschwindet wieder hinter der Tür. Marie geht zurück zu den anderen. Die Pause ist beinahe aus, sie muss also fast eine halbe Stunde mit Gery draußen gestanden sein.
»Na? Du warst aber lange weg.« Jakob legt seinen Arm um ihre Schultern.
»Du weißt ja, Frauen. Alle müssen sie aufs Klo in der Pause.«
Wieso sage ich nicht, dass ich jemanden getroffen habe?, denkt sie. Als müsste ich Gery vor Jakob verheimlichen.
»Ich hab uns frisches Bier besorgt«, sagt Jakob und hält ihr die Flasche unter die Nase.
»Ich mag kein Bier«, sagt Marie. »Das weißt du doch.«
20 Ihr Hals hat als Erstes zu hängen begonnen. Zuerst das Doppelkinn. Sie hat ja immer schon ein Doppelkinn gehabt beim Hinunterschauen, schon als junges Mädchen. Hat immer extra ein wenig hinaufgeschaut, ja nicht schräg und nach unten, so wie es der Fotograf von ihr verlangt hat. Wie sie damals diskutiert hat mit ihm! Da ist sie noch ein junges Ding gewesen, sechzehn vielleicht. Damals haben sie noch schöne Fotografien gemacht, wie ein Filmstar hat man auf ihnen ausgesehen.
Hedi zwickt die Haut am Hals mit Daumen und Zeigefinger zusammen. »Wie ein Truthahn schaust aus!« Sie lässt die Haut wieder los, nimmt die Pinzette und zupft sich ein Haar am Kinn aus. Als ob das noch einen Sinn hätte. Schaut dich ja eh keiner mehr an. Sie schlüpft aus dem Pullover und dem Unterhemd. Streift Strumpfhose und Rock hinunter. Dann die Unterhose. Legt die Unterwäsche in die Waschmaschine und schlüpft ins Nachthemd. Den Rock und den Pullover trägt sie ins Wohnzimmer, hängt sie über den Schaukelstuhl. Dann geht sie wieder ins Bad und nimmt die Zähne heraus. Legt sie in den breiten Plastikbecher und füllt Wasser ein, schält eine Reinigungstablette aus der Verpackung. Das ist schon gut, dass das keiner sehen muss, denkt sie. Dass ich nicht neben dem Ernst hab alt werden müssen, oder gar neben dem Ilja. Wenn ich jetzt meine Zähne vor ihm herausnehmen und mich mit meinem Truthahnhals zu ihm hinüberbeugen müsste, um ihm eine gute Nacht zu wünschen.
Ob Ilja noch seine eigenen Zähne hat? Bei ihr haben sich nach der dritten Schwangerschaft alle gelockert. Mit fünfunddreißig schon ein künstliches Gebiss. Aber wer weiß, ob Ilja überhaupt noch lebt. Der müsste jetzt auch schon … wie alt? Siebenundachtzig, meine Güte! Hedi stellt sich seine Sankt Petersburger Wohnung vor. Mit einem großen, glänzenden Flügel und
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