Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Aber das Koma ihres Vaters macht ihm Angst. Außerdem will er die wenige Zeit, die er mit ihr verbringt, nicht in einem Pflegeheim sitzen. Vielleicht sollten sie wieder öfter etwas miteinander unternehmen. Ins Kino gehen oder ein Picknick im Grünen machen. Keiner verlangt von ihm, dass er die ganze Zeit im Labor sitzt.
Mechanisch fährt seine Hand über ihr Haar.
Vielleicht bin ich doch zu egoistisch für eine Beziehung, denkt er. So wie Sonja immer behauptet hat. Vielleicht bin ich wie mein Vater. Wann habe ich ihn schon gesehen? Wenn er nach Hause gekommen ist, bin ich bereits im Schlafanzug gewesen. Er ist in mein Zimmer gekommen und hat mir von seinen Quanten erzählt, hat mir Bücher darüber mitgebracht und mir alles erklärt. Hat mich ins Labor mitgenommen und mir den Pumplaser gezeigt. Andere haben das alles nur aus dem Fernseher gekannt. Der Vater hat froh sein können, dass ich mich für seine Sache so begeistert habe. Oder ist man als Kind automatisch von den Dingen, die der Vater macht, begeistert? Vor allem, wenn das, was der Vater leistet, doch so wichtig ist. Grundlagenforschung. Und jetzt mache ich dasselbe. Irgendwann wird der Quantencomputer Alltag sein. Die Quantenkryptographie. Und ich darf dabei sein.
Wie schafft das der Dekan? Der hat doch auch Familie, Kinder sogar. Er hat neulich von seinem Sohn erzählt und dass der sich nicht für Physik interessiere. »Da kann man nichts machen. Man kann ein Kind nicht zwingen, für etwas eine Leidenschaft zu entwickeln, nur weil man selbst davon begeistert ist.«
Hat mich der Vater gezwungen? Der Vater hat über nichts anderes gesprochen als über die Uni und seine Forschung. Vielleicht ist es nur natürlich, dass man als Sohn alles verstehen will. Darum ging es doch immer. Alles verstehen zu wollen, was der Vater macht. Vielleicht ist es sogar gut, wenn sich dein Kind nicht für das interessiert, was du machst. Dann musst du über andere Dinge sprechen. Am besten, ich bekomme gar keine Kinder. Wo ich es doch nicht einmal schaffe, mich mit Marie über Dinge zu unterhalten, die sie interessieren.
Er nimmt ihr Gesicht zwischen seine Hände und küsst sie. Ihre Lippen schmecken salzig. Mit Marie kann ich mir so viel vorstellen, denkt er. Vielleicht sogar ein Leben.
Teil 4
Disentanglement
1 Marie sitzt am Balkon, die Füße von sich gestreckt, und sieht durch den Regenschleier auf die gegenüberliegende Häuserfront. Am Fenster steht der Mann der Staubtuchfrau, diesmal im weißen Unterhemd. Fast könnte man meinen, er sähe zu ihr herüber, und vielleicht tut er das auch, vielleicht spricht er in Gedanken mit ihr, so wie sie mit ihm spricht. Vielleicht sieht er aber auch einfach nur vor sich hin, so, wie man eben vor sich hin sieht, wenn man am Fenster raucht.
Der Mann sieht zu den Mülltonnen hinunter, vor seinem Gesicht glimmt die Zigarettenspitze rot auf. Marie stellt sich vor, wie es wäre, neben ihm zu stehen, ganz nah an seiner Seite, sodass ihr Arm sein Unterhemd streifen würde. Plötzlich muss sie an den Vater denken. Wie sie immer ganz still nebeneinander gestanden sind und aus dem Fenster geschaut haben. Das war, bevor sie nach Wien gezogen sind. Damals hat der Vater noch gut gerochen, und Marie ist gerne neben ihm gestanden. In diesen Momenten hat es nur sie beide gegeben, und Marie hat sich vorgestellt, dass es immer so sein würde. Nur ich und Vati und Vati und ich. Wenn sie aus dem Fenster gesehen haben, konnten sie den Touristen zusehen, wie sie von Geschäft zu Geschäft liefen und ihre Fotoapparate hoben. Nachmittags fuhren Studenten auf ihren Rädern vorbei, sie kamen vom Stadtpark und pfiffen vor sich hin, freuten sich auf die bevorstehenden Ferien. Über dem Treiben vergaß Marie die Kreidestriche, die man auf den Boden gemalt hatte, um den Körperumriss der toten Mutter zu markieren.
»Ich habe Jakob gesagt, dass ich mich einsam fühle.« In ihrer Vorstellung spricht Marie die Worte laut aus.
Der Mann zieht an der Zigarette und sieht in die Nacht hinaus. Marie stellt sich vor, nur sein Profil sehen zu können, lang und gelb springt seine Nase hinter der vom Rauch aufgeblähten Backe hervor.
»Er wird es nicht verstehen«, gibt er ihr zur Antwort.
»Ich weiß.«
Zwischen den Mülltonnen tanzt die kleine schwarze Katze der Nachbarin, läuft über den Hof, schlüpft dann durchs Geländer und verschwindet hinter der niedrigen Betonmauer.
»Und was wirst du jetzt tun?«
»Ich weiß es nicht. Ich werde mich neben ihn legen
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