Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
die Erlaubnis, das Material verwenden zu dürfen. An einem Donnerstagnachmittag reicht er seine Projektbeschreibung beim Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur ein. Danach nimmt er den Zug nach Laa an der Thaya und steigt in Niederkreuzstetten aus. Die zweieinhalb Kilometer nach Oberkreuzstetten geht er zu Fuß, um seine Schulter hängt die Kamera. Zum Hauptplatz, die Hauptstraße entlang, bis zum Ortsende. Beim Lagerhaus biegt er von der Hauptstraße ab, die Felder entlang, wieder nach rechts, in die Hintausgasse. Vor einem der Längsstadel liegt eine verrostete Federzahnegge. Die Tür des Stadels steht offen, dahinter kann Gery ein altes Pferdefuhrwerk erkennen. Das Holz ist morsch und zersplittert. Er geht weiter, bis zum Ende des staubigen Weges. Durch das rückseitige Fenster des letzten Hauses sieht er ein Bett mit einer zerschlissenen Tagesdecke, zwei Kommoden und ein Regal mit alten Büchern. In der Ecke ein Stapel alter Tageszeitungen. Neben der Tür ein Hometrainer. Eines der Pedale fehlt, auf dem schwarzen Kunstledersattel liegt eine dicke Staubschicht. Gery filmt das Haus und das angrenzende Feld. Versucht, sich die junge Hedi vorzustellen, wie sie in den Kuhstall geht, ein Kopftuch umgebunden, in der Hand den Eimer. Wie plötzlich der junge russische Soldat vor ihr steht und nach Milch verlangt. In Gerys Vorstellung hat alles ganz anders ausgesehen. Vielleicht sind es aber auch nur die Farben, denkt er. In meinem Kopf war immer alles schwarz-weiß.
Als er wieder zum Bahnhof geht, muss er an die eigenen Eltern denken, und dass er sie seit seiner Rückkehr aus Köln vor vier Jahren nicht mehr gesehen hat. Die Nachmittagssonne brennt auf die Hauptstraße hinunter. In zwanzig Minuten fährt der nächste Zug nach Wien. In der Luft hängt der Geruch von Kuhdung. Zwischen ausgelassenes Vogelgezwitscher drängt sich der Ruf eines Hahns und Hundegebell. Gery beschleunigt seine Schritte. Die Kameratasche schlägt gegen seine Hüfte. Als er am Bahnsteig ankommt, fährt gerade der Zug ein.
19 Über den Köpfen der Konzertbesucher bläht sich eine dicke Blase aus Bierdunst und Schweißgeruch. Alle drängen und stoßen, treten einander auf die Füße, bohren ihre Ellbogen in die Rippen des anderen. Die schwitzende, tratschende Menschenmenge ist ihr zuwider. Warum ist sie gekommen? Weil die Band Joe gefallen hätte? Vielleicht hat er sie gekannt, hat er sie sogar auf einer seiner unzähligen Kassetten gehabt, so wie er alles, was ihm gefiel, auf Kassetten kopiert hat.
Würde Joe noch leben, er wäre heute hier. Joe liebte Konzerte wie dieses, in einem engen Saal mit einer viel zu kleinen Bühne. Mit einer Band, der es darum geht, eine Weltanschauung in die Welt hinauszusingen. Etwas herausflutschen zu lassen, was anderen im Hals stecken bleibt.
Sie nuckelt an der Bierflasche und sieht auf die Uhr. Warum ist sie hierhergekommen?
Ein Schrei, dann Lachen. Marie sieht dorthin, woher der Lärm kommt. Eine junge Frau wischt sich mit der Hand über den lilafarbenen Rock, daneben steht einer und hebt die Handfläche vor die Brust, in der anderen hält er einen Pappbecher. »Sorry.« Plastik raschelt, als ein paar Taschentücher aus der Verpackung gezogen werden. Die junge Frau wischt über den Rock, zuckt dann mit den Schultern, sagt: »Ist schon okay, macht nichts.« Der Typ mit dem Pappbecher geht weiter. Stößt Marie mit dem Ellbogen in den Rücken, entschuldigt sich abermals: »Sorry.«
Endlich betreten die Musiker die Bühne. Die Menge beginnt zu grölen. Rechts im Eck schlägt eine junge Frau den Takt auf dem Schlagzeug, daneben geigt eine. Marie lehnt ihren Kopf an Jakobs Schulter. Der Sänger singt, wie es sich anfühlt, die Wegbeschreibung verloren zu haben. In einem Pappkarton zu laufen und den Ausgang nicht mehr zu finden.
Marie nimmt einen Schluck vom Bier. Hört den Refrains zu.
Das ist kein Leben, nein, das ist Luftholen
. Wieder muss sie an Joe denken. An seinen Wunsch nach Freiheit und sein Gefangensein in ebendiesem Wunsch.
»Na, du?« Jakob legt seinen Arm um ihre Taille und zieht sie zu sich heran. »Gefällt dir die Band?« Marie nickt und lächelt. Nimmt noch einen Schluck aus der Bierflasche, dabei mag sie den Geschmack von Bier nicht.
Sie lehnt ihren Körper gegen Jakob. Die Luft im Saal ist schwül, ihre Arme kleben aneinander. Neben ihr singt Haruto lauthals mit.
Gebt aufeinander Acht.
Marie fragt sich, wie viel er von dem, was er singt, versteht. Hört man in Japan deutschen
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