Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
erwischt hätte. Da konnte sie ihm doch nicht noch damit kommen, dass sie sich mit ihm kein Leben mehr vorstellen kann. »Dann nach Malmö und Göteborg«, hat er geschwärmt. Er hat so glücklich ausgesehen. »Über den Göta-Kanal nach Stockholm. Die Schären sollen wunderschön sein! Einfach aus dem Fenster der Bahn schauen. Wir könnten zu den nördlichen Nationalparks fahren. Wo gibt es eigentlich die Fjorde? Gibt es die nur in Norwegen? Nein, die muss es doch auch in Schweden geben, oder?«
Marie hatte keine Ahnung, wie man zu den Fjorden kommt. Aber sie hat es sich schön vorgestellt. Mit der Bahn über Deutschland nach Dänemark, von dort aus weiter nach Stockholm. Aus dem Fenster sehen und die ganze Zeit dabei das Rattern des Zuges. Am Abend dann irgendwo aussteigen, ein paar Sachen in den Rucksack stopfen, den großen Koffer in ein Bahnhofsschließfach sperren und nach einer Unterkunft Ausschau halten. Zum Frühstück weiche Eier, serviert von einer alten Frau, die private Zimmer vermietet. Sich noch ein wenig mit ihr unterhalten und dann wieder weiterziehen, ohne bestimmten Plan, einfach der Nase lang. Es hat alles so schön geklungen. Aber bis August sind es noch drei Monate. Sie hält keine drei Monate mehr aus. Außerdem würde nach dem Urlaub alles wieder so sein wie davor. Sie passen nicht zueinander, haben sich nichts zu sagen. Vielleicht wird es immer so sein, denkt Marie, egal mit wem. Dieses Gefühl, nie anzukommen. Nie durchzudringen.
Vorhin hat er sich wieder an sie geschmiegt. Hat seinen Schwanz gegen ihren Po gepresst, zwischen ihre Oberschenkel. Hat zugestoßen, obwohl sie sich schlafend gestellt hat. Ihr ins Ohr gekeucht. Früher hat sie das erregt, heute hat sie sich vergewaltigt gefühlt. Und dann ist es ihr herausgerutscht. »Du, das hat keinen Sinn mehr.« Die Worte sind am Fenster abgeprallt und zurück aufs Bett gesprungen, wie ein Squashball, der mit aller Kraft gegen die Wand geschlagen wird.
Jetzt steht sie in der Küche und denkt: Ich darf jetzt keinen Rückzieher mehr machen, sonst hört das nie auf.
Sie geht wieder ins Schlafzimmer, in den Händen balanciert sie die Tassen. Sie drückt eine Jakob in die Hand und setzt sich neben ihn. Sieht ihm zu, wie er die Wand anstarrt. Ob auch er den Weg des Sprunges in der Mauer verfolgt, so wie sie es oft tut, wenn sie allein im Bett liegt?
»Es gibt keinen richtigen Zeitpunkt, eine Beziehung zu beenden«, sagt sie. »Für den, der nicht damit rechnet, kommt es immer überraschend.«
»Aber es war doch alles gut zwischen uns«, sagt er.
Die Katze tapst über das Bett und rollt sich auf Jakobs Schoß ein. Marie würde sie gerne wegscheuchen. Sie soll sich nicht auf Jakobs Beine setzen, Jakobs Beine gehören nicht mehr hierher. Bald werden sie unter der Decke hervorkriechen, in die Hosenbeine schlüpfen und durch die Wohnung gehen. Sie werden Jakob ins Badezimmer tragen, wo er seine Zahnbürste einpacken wird, und danach ins Vorzimmer, wo er seine Sporttasche aus dem Kasten holen wird.
Jakob fährt der Katze über das Fell. Vom Kopf bis zum Schwanz. Er streichelt sie nie gegen den Strich, denkt Marie.
Sie geht ins Badezimmer und lässt Wasser über die Zahnbürste rinnen. Heute Abend wird niemand mehr die Zahnpastatube von hinten aufrollen, um die Zahnpasta nach vorne zu quetschen. Marie steckt sich die Zahnbürste in den Mund. Sie hat noch zwölf Minuten. Sie wird wie jeden Tag in ihre Hosen schlüpfen, T-Shirt und Pulli anziehen und die Wohnungstür hinter sich zuziehen. Nur dass sie Jakob diesmal keinen Kuss auf die Lippen drücken wird. Sie wird in die Schule fahren, eine Stunde Psychologie und zwei Stunden Französisch unterrichten. Dabei wird sie kaum Zeit haben, an das, was am Morgen passiert ist, zu denken. In den Stunden dazwischen wird sie die Hausübungshefte verbessern. Nach der letzten Unterrichtsstunde noch ein paar Arbeitsblätter kopieren und wieder nach Hause fahren.
Als sie aus dem Badezimmer kommt, hat Jakob alles gepackt. So schnell geht es also, denkt sie. Jakob löst den Schlüssel zu Maries Wohnung vom Schlüsselbund und hängt ihn auf den Nagel neben der Wohnungstür. Den Weg zur Straßenbahn gehen sie trotzdem gemeinsam.
»Wie warm es ist«, sagt er.
»Ja. Richtig unheimlich«, sagt sie.
Im Waggon sehen sie aus dem Fenster, Marie aus dem rechten, Jakob aus dem linken. Am Schwedenplatz drückt er Marie einen Kuss auf die Wange. »Wir telefonieren«, sagt er und steigt aus.
Marie bleibt allein in der
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