Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
darin besteht, sich einmal um die Alten zu kümmern. In Traudes Generation war das noch anders. Da kann die Mutter hundertmal behaupten, dass sie doch hätte Richterin werden können. Damals hätte das noch keiner gutgeheißen, dass sie ihr Kind von klein auf in einen Kindergarten steckt.
Traude seufzt. Und wenn ich auf sie gehört hätte? Wenn ich das Kind nicht bekommen hätte? Wenn ich abgetrieben und weiterstudiert hätte?
Aber nein, so darf sie nicht denken. Sie ist ja immer glücklich gewesen mit ihrem Leben, darf sich jetzt nichts anderes einreden lassen, nur weil die Mutter ihren Tafelspitz nicht isst. Und überhaupt, was ist heute los mit ihr, dass sie so denkt?
Traude sieht Jakob über den Tisch hinweg an. Wie er mit der Messerspitze Semmelkren auf das Fleischstück streicht, es dann zum Mund führt und kaut. Wenn es nach ihm ginge, säße er heute nicht hier. Würde bei seiner Freundin sein oder im Labor sitzen. Jetzt wird er wirklich nach Finnland fliegen. Ein großer Kongress in Helsinki. Um Jakob muss sie sich keine Sorgen mehr machen, der geht seinen Weg.
Sie sieht zu ihrer Mutter hinüber. Denkt sich: Jetzt bist du es, die mich braucht. Und: Wenn du mich damals nicht auf die Welt gebracht hättest, dann gäbe es dieses Essen heute nicht. Dann wären ich und Jakob gar nicht auf der Welt, dann würde Norbert mit einer anderen feiern. Mit einer anderen Frau und einem anderen Sohn.
Traude weiß, was ihre Mutter denkt. Sie hat es immer gespürt. Anna und sie waren keine Wunschkinder. Damals war das eben so, damals gab es noch keine Pille. Damals haben die Frauen noch Kinder bekommen, ob sie wollten oder nicht.
Die Großmutter sitzt am Stuhl, kaut an den drei Löffeln Röstkartoffeln, die sie sich auf den Teller genommen hat. Sie sieht so alt aus, denkt Traude. So verloren. Wie bedächtig sie an den Kartoffeln kaut. Vielleicht tut sie es sogar mir zuliebe, denkt sie, vielleicht hat sie auf den Muttertag und die Einladung vergessen, hat wirklich um elf Uhr gegessen. Sie hätte sie am Morgen nochmals anrufen sollen. Wo sie doch so verwirrt ist in letzter Zeit. Immer sitzt sie in ihrem Schaukelstuhl und wippt vor sich hin.
Wann kommt der Punkt, an dem die eigenen Eltern zu Kindern werden? Die Macht der Mutter gebrochen ist, die Großmutter kleiner als die Mutter wird?
Traude legt Messer und Gabel beiseite. Tupft sich mit der Serviette die Lippen. Norbert und Jakob reden über die Arbeit. Verschlüsselung mittels Quanten, sie hat keine Ahnung davon. Wie wird es nächstes Jahr sein? Und übernächstes? Sie stellt sich vor, wie sie der Mutter den Löffel in den Mund schieben wird. Sie will die Mutter nicht zu sich nach Hause nehmen, ihr den Hintern auswischen und die Windeln wechseln. Irgendwann hat alles sein Ende, auch das Bemuttern. Traude hat es satt, für die anderen da zu sein. Wann hat es begonnen, das Gefühl, genug geleistet zu haben? Auch was Norbert betrifft. Soll er doch tun, was er will. Seit er pensioniert ist, erträgt sie ihn nicht mehr. Seine permanente Anwesenheit am Nachmittag, seine Spaziergänge am Vormittag, immer so, dass er zum Essen zu spät kommt. Früher hat sie sich den Tag selbst einteilen können. Es hat sie nie gestört, dass er kaum zu Hause war. Er hatte einen angesehenen Beruf, und sie hat ihn immer unterstützt. Aber jetzt braucht er keine Unterstützung mehr. Traude weiß nicht, was Norbert braucht. Beschäftigung? Aber was hat das schon mit ihr zu tun? Wie wenn sich Norbert je mit ihr beschäftigt hätte. Norbert hatte die Universität, sie das Kind. Jetzt sind die Universität und das Kind aus ihrem Leben verschwunden.
Traude stapelt die Teller aufeinander und sammelt das Besteck ein. In der Küche kann sie ein wenig durchatmen, muss sich nicht den Blicken der anderen aussetzen. Ungehemmt rinnen ihr Tränen die Wangen hinunter.
7 »Du kannst doch nicht einfach so aus heiterem Himmel entscheiden, dass unsere Beziehung nichts mehr wert ist!«
Marie hat die Beine angezogen und dreht die Kaffeetasse zwischen ihren Händen. Natürlich. So muss es für ihn aussehen, denkt sie. Einfach so, aus heiterem Himmel. Gestern noch haben sie über den gemeinsamen Urlaub gesprochen, und jetzt ist alles anders.
»Wir fahren mit der Bahn nach Kopenhagen«, hat Jakob geträumt, als sie am Sofa saßen. Er war so angespannt nach dem Sonntag bei seinen Eltern. Dass die Großmutter schon wieder so seltsam gewesen sei, hat er erzählt, und dass er seine Mutter in der Küche beim Weinen
Weitere Kostenlose Bücher