Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
auf der Türmatte. Sie hätte den ganzen Tag versucht, anzurufen. »Lass mich endlich in Ruhe!«, zischte Hedi. Dann sah sie die Polizisten an: »Ist es denn verboten, einfach nur einmal seine Ruhe haben zu wollen?«
Die Polizisten stellten ihr Fragen. Was sie tagsüber gemacht habe, wie alt sie sei und ob sie allein wohne.
»Ich bin noch völlig klar im Kopf, meine Herren«, entgegnete Hedi. »Und jetzt würde ich gerne noch ein wenig lesen, bevor ich schlafen gehe.«
Die Polizisten verabschiedeten sich höflich und Hedi schloss die Tür, ohne Traude noch einmal anzusehen.
Die Pendeluhr tickt.
»Wieso hast du das getan? Warum hasst du deine Töchter so?«
Hedi antwortet nicht. Sie öffnet den Mund und schließt ihn wieder. Als sie aufsteht und in die Küche geht, bleibt Gery sitzen. Er hört sie mit dem Geschirr hantieren und die Kaffeemaschine einschalten. Stellt sich vor, wie sie zurückkommen wird, mit der Kaffeekanne und dem Rest des Kuchens, und wie sie über alles Mögliche reden werden, über das Wetter, das Essen auf Rädern, das ihr wieder zu viel gewesen sein wird, und das Buch, das sie gerade liest.
Doch als Hedi zurückkommt und die Kaffeekanne auf den Tisch stellt, sagt sie nichts. Eine Weile sitzen sie einander schweigend gegenüber, Hedi sieht aus dem Fenster und Gery auf sie. Gerade, als er sich denkt: Vielleicht will sie ja auch vor mir ihre Ruhe haben, dreht sie den Kopf vom Fenster weg und sieht ihm in die Augen.
»Ich hasse meine Töchter nicht. Aber ich habe sie nie wirklich geliebt. Nicht so, wie eine Mutter ihre Kinder lieben sollte. Nicht so, wie ich meinen kleinen Wassily geliebt habe. Eine wie ich hat es nicht verdient, dass man ihr im Alter das Klo putzt.«
»So funktioniert das aber nicht«, sagt Gery, »damit verletzt du sie nur noch mehr.«
6 Die Großmutter ist größer als die Mutter, das sagt schon der Name. Auch wenn sie klein und verschrumpelt ist. Man hat sie ins Auto gesetzt, Stufen hinunter und hinein mit ihr. Jetzt sitzt sie am Esstisch der Tochter und starrt in den Teller.
»Ich hab keinen Hunger.«
»Bist du krank?«
Tafelspitz. Traude hat extra Tafelspitz gekocht. Der hat der Mutter doch immer so gut geschmeckt. Tafelspitz mit Semmelkren und Röstkartoffeln.
»Ich hab schon gegessen, weißt eh, ich bekomm doch mein Essen um elf.«
»Aber du hast ja gewusst, dass …«
Traude spricht den Satz nicht zu Ende. Immer muss die Mutter ihr alles kaputt machen. Im Alter wird sie noch gemeiner, hat sich gar nicht mehr unter Kontrolle. Um elf, sagt sich Traude, lässt es wie ein Mantra im Gehirn rattern. Das Essen auf Rädern kommt schon um elf, und die Mutter meint es nicht böse. Alte Leute schlafen nicht lang. Deswegen hat sie um elf gegessen, während Traudes Essen erst um eins fertig gewesen ist. Weil sie vorgekocht hat, dann mit dem Auto die Mutter hat holen müssen, langsam die drei Stockwerke hinunter, dann die Autofahrt, dann wieder zwei Stockwerke hinauf und fertig kochen.
Traude würgt Bissen um Bissen hinunter. Am liebsten würde sie es machen wie die Mutter. »Esst ihr nur ruhig, ich hab keinen Hunger.« Einfach ins Schlafzimmer gehen und sich niederlegen. Ein Buch lesen und die anderen aussperren. Sollen sie doch machen, was sie wollen. Als ob ihre Mutter die einzige Mutter hier am Tisch wäre. Aber sie darf sich nicht beschweren, Jakob hat Blumen mitgebracht. Einen dicken bunten Frühlingsblumenstrauß und eine Schachtel belgische Schokolade. Mehr kann sie nicht verlangen. Vielleicht ist es gut, dass er ein Bub geworden ist. Jakob wird nicht für sie da sein müssen, wenn sie einmal alt ist. Wird ihr nicht die Fenster putzen müssen und das Klo.
Wer den Muttertag erfunden hat, hat nicht an die Töchter gedacht. Die Generation dazwischen, selbst schon Mutter und doch noch Kind. Die Arbeit bleibt immer an den Müttern der mittleren Generation hängen. Wo die Großmütter meist schon alt sind und allein. Die Männer an den Krieg oder auf dem Weg ins hohe Alter verloren haben. An den Krebs oder einen Arbeitsunfall. Es gibt kaum Männer mit zweiundachtzig, denkt Traude. Nur Frauen. Die sitzen bei den Töchtern, die selbst schon lange Mutter sind. Oder sie sitzen im Altersheim, dort, wohin keine Tochter mehr kommt. Ihre Mutter kann froh sein. Sie wird nie in ein Altersheim müssen, Traude wird das nicht zulassen. Nicht so wie die heutige Generation. Die Jungen kümmern sich um das eigene Leben, denen hat man nicht eingeimpft, dass ihr einziger Lebenszweck
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