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Mitten in Amerika

Mitten in Amerika

Titel: Mitten in Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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die verkrampften Hände laufen zu lassen.
    »Der Bruder meines Vaters ist an der Schwindsucht gestorben«, sagte Jane Ratt. »Er hatte sie jahrelang. Aber wißt ihr,die lange Krankheit hat Großmutter Zeit gegeben, sich auf das Ende vorzubereiten. Sie sah es kommen und konnte es fast begrüßen, weil es dem Leiden des armen Jungen ein Ende bereitete. Sie hat später gesagt, daß sie jedesmal, wenn sie in sein Krankenzimmer ging, die Engelsflügel in der Luft hören konnte.« Sie schüttelte lose Fäden von ihrem Quiltstück und schaute nach draußen. Vor dem Regen, der leise fiel, feiner dünner Regen wie seidene Stiche, waren die Männer in ihre Wagen geflüchtet.
    »Es ist ein Wunder, daß überhaupt so viele überlebt haben. Jeder kleine Kratzer konnte sich infizieren, aber irgendwie heilten die meisten. Wir hatten kein Pflaster, aber meine Mutter hat Ölkraut geholt und die Stengel zerbrochen und den Saft auf die Wunde geträufelt, und der hat sie wie ein Pflaster versiegelt.«
    Freda Beautyrooms kam zurück, die Finger bewegend. »Das Krankenzimmer. Das ist nun wirklich ein Zimmer, das die Leute heutzutage nicht mehr kennen. Auf unserer Ranch war immer einer im Krankenzimmer. Wenn nicht eines von uns Kindern, dann ein verletzter Cowboy. Erstaunlich, daß diese Burschen so lange gelebt haben, wenn man bedenkt, wie waghalsig sie waren, immer gleich mit der Waffe zur Hand und dauernd bei den mehr schlecht als recht zugerittenen Pferden.«
    Mrs. Vera Twombley, eine kleine, vertrocknete Frau, die bislang geschwiegen hatte, öffnete jetzt den Mund. Sie sah älter aus als Freda Beautyrooms, war aber vier Jahre jünger. »Erinnert ihr euch noch an DesJarnetts Melonen?« Das sagte sie so sehnsüchtig, daß Bob gerührt war; er blickte den Tisch entlang und stellte sich all die alten Frauen als junge Mädchen vor, rank und schlank, wie sie die süßen Melonen aufschnitten und sich nicht träumen ließen, daß sie jemals alte Frauen sein würden.
    Freda Beautyrooms sagte: »Und dann die Depression. SchwereZeiten überall. Die fürchterlichen Sandstürme. Jeder hatte eine Kette hinten an sein Auto gebunden, um die statische Aufladung zu unterbinden, die sonst der Batterie den Garaus gemacht hätte. Der Wind staute die Elektrizität im Gras auf, bis es sich von allein entzündete. Vor allem das trockene Büffel- gras. Und der Staub machte die Leute wahnsinnig, manche wenigstens.«
    Sie brachte ihre Nadel in dem Köfferchen unter als unmißverständliches Zeichen, daß sie für heute fertig war, und sprach weiter. »Tragödien gab es genug, aber es ist schon merkwürdig, welche in der Erinnerung die größten sind. Ich denke an die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Damals war ich in der Grundschule, und es muß um den Memorial Day herum gewesen sein, der ein besonderer Feiertag war, denn ich hatte ein neues Kleid, das wir hinterher wegwerfen mußten. Ich hatte einen kleinen Hund, Big Boy, so hatten wir ihn genannt, weil er so klein und draufgängerisch war. Ich weiß nicht, wie die Hunderasse heißt. Ein kleiner Kläffer mit schwarz-weißem Fell. Er hat mich immer zur Schule begleitet und ist dann nach Hause gelaufen. Nachmittags kam er wieder, setzte sich neben die Schultür und wartete auf mich. Wie gesagt, es war um den Memorial Day herum, und die Leute hatten die Gräber der Jungen, die im Krieg gefallen waren, mit kleinen Flaggen geschmückt. Ihr wißt ja, wie der Wind hier im Panhandle wütet. Wenn man am Friedhof vorbeiging, hörte man die ganzen Fähnchen im Wind flattern und knattern. Und das hat Big Boy wahnsinnig gemacht. Er konnte den Lärm nicht aushalten, und wir rannten so schnell wie möglich am Friedhof vorbei. Aber auf so einen kleinen Hund kann man nicht die ganze Zeit aufpassen. Eines Tages hat er mich wie immer zur Schule begleitet und lief nach Hause zurück. Als die Schule aus war, ging ich hinaus, aber er war nicht da. Ich machte mich auf den Heimweg, und als ich zum Friedhof kam, sah ich dort etwas im Gras liegen. Das war Big Boy, totgeschossen. Und ich habe den kleinen toten Hundheulend und plärrend nach Hause getragen und hab mir mit all dem Blut mein neues Kleid ruiniert. Wir haben ihn unter dem Woolybucket-Baum begraben. Später hat uns jemand erzählt, daß ein Mann aus der Stadt ihn erschossen hat. Big Boy war auf den Friedhof gelaufen und hatte angefangen, die Fähnchen zu zerbeißen, in lauter Fetzen zu reißen. Sieben Fähnchen hatte er wohl schon zerfetzt, als ihn jemand dabei sah und sagte,

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