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Mitten in Amerika

Mitten in Amerika

Titel: Mitten in Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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gespenstischen Rituals zu erblicken, doch nachdem er das Skelett von allen Seiten betrachtet hatte, kam er zu dem Schluß, daß es das Ergebnis eines Unfalls sein mußte, daß das Wild durch das hohe Gras gesprungen war, den Eisenpfahl nicht gesehen hatte und zufällig mit aller Wucht darauf gelandet war, aufgespießt und umgekommen und seitdem als grausige Vogelscheuche dort hing, bis die Wetterunbilden die Knochen zerstreuen und Käfer sie zu Staub kauen würden. Erschüttert und ein wenig benommen ging er zu der Veranda zurück, ergriff seinen Koffer, stieg in den Saturn und fuhr ab.
    Doch das Skelett wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Er stellte sich vor, daß er selbst das Tier war, das durch das hohe Gras sprang. Vielleicht war es Nacht, und die ersten Strahlen des Mondlichts durchstießen den Himmel, versilberten die Grashalme und Samenkapseln. Wie leicht, in so einer glitzernden Welt den tödlichen Speer zu übersehen, der sich in den hohen Grashalmen verbirgt, und dann der heftige durchdringende Schock, ein paar Sekunden instinktiven Zappelns, während der Mond verblaßt und endgültig verschwindet. Oder er rennt um sein Leben, von Hunden verfolgt, in großen Sprüngen, die ihn hoch emportragen, viele Meter bei jedem Sprung, so daß er den Pfahl leicht hätte überspringen können, wenn er ihn gesehen hätte, doch er fällt mit aller Wucht darauf und bleibt dort hängen, aufgespießt, stirbt langsam, während die Hunde sich in ihm verbeißen, bis er im Licht der Morgensonne verrottet und vertrocknet.
    Im Büro der National Monuments in Fritch erkundigte er sich nach dem Weg zu den Steinbrüchen.
    »Da brauchen Sie einen Führer. Um zwölf Uhr mittags geht eine Gruppe hin«, sagte die große Brünette hinter der Theke. »Sie können mitgehen. Cal Wollner ist der Führer. Treffpunkt ist bei der Rangerstation in einer halben Stunde.«
    Bob sah auf seine Uhr. Es war Viertel vor elf, und er hatte vorgehabt, um halb zwölf wieder unterwegs zu sein. Wenn er auch noch an dem Autograph Rock in der Nähe von Boise City haltmachte und zu Ehren Leutnant Aberts Bent’s Fort besuchte, würde er nicht vor Mitternacht in Denver sein können. Vielleicht sollte er sich beides, Felsen und Fort, für die Rückfahrt aufsparen, falls es eine Rückfahrt geben würde.
    Cal Wollner, der Führer, kam herein und sagte: »Alle bereit? Setzen Sie Ihre Hüte auf, es ist heiß dort draußen. Hitzschläge brauchen wir keine.«
    Eine stattliche Gruppe folgte Wollner den steilen Pfad hinauf. Alle paar hundert Meter suchten sie Schutz vor der sengenden Sonne auf überdachten Rastplätzen, wo es von aufdringlichen Wespen wimmelte, während Wollner Vorträge über Indianerstämme, ihre Siedlungen, Handelsbeziehungen, Wanderungsbewegungen und Kriege hielt. Unter ihnen lag tiefblau Lake Meredith. »Hat jemand Fragen?«
    »Ich wüßte gern«, sagte Bob, »ob der Name Alibates das indianische Wort für Feuerstein ist?«
    Wollner lächelte. »Nichts dergleichen. Ist der Name eines alten Cowboys, dem im neunzehnten Jahrhundert das Gelände gehört hat. Allie. Mr. Allie Bates.« Aber er konnte Bob nicht sagen, welcher Indianerstamm es war, der die Feuersteine bearbeitet hatte.
    Als sie von oben hinuntersahen, erblickten sie Dutzende flacher Gruben, in denen die Indianer den kostbaren Stein abgebaut hatten. Auf dem Boden lagen Steine verstreut, purpurn, weiß, blaßblau, manche marmoriert, andere gestreift. Bob saheinen wunderschönen Stein in rötlichvioletter Farbe mit graublauen Schrägstreifen. Er wollte ihn unbedingt haben, und als der Führer weiterging und die Gruppe ihm folgte, bückte er sich, tat so, als binde er seinen Schnürsenkel, nahm den Stein und steckte ihn ein. Er fühlte sich warm und fettig an. Nach ein paar Minuten nahm Bob ihn aus der Tasche, aber als er sah, daß Wollner ihn beobachtete, ließ er ihn zu Boden fallen. Wollner nickte.
    »Verschwenden Sie erst gar keinen Gedanken daran«, sagte er, ohne zu lächeln.
    Auf dem Weg nach unten blieb der Führer stehen, um das Offenkundige zu zeigen.
    »Lake Meredith«, sagte er. Die mattblaue Wasseroberfläche furchten Kämme wie Verkehrsberuhigungsschwellen.
    »Wie riesengroß!« sagte eine Frau.
    »Ja. Und das ist nur die Oberfläche«, sagte Wollner. »Als der Damm gebaut wurde und der See sich füllte, kamen die Leute scharenweise aus Amarillo und Borger, um ihre neuen Boote auszuprobieren. Es war ein Alptraum. Die meisten von ihnen hatten als echte Panhandle-Bewohner noch nie

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