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Mitten in Amerika

Mitten in Amerika

Titel: Mitten in Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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nicht. Sie erklärte ihm, daß Cowboy Rose und Woolybucket in den 1890er Jahren um den Sitz der County-Verwaltung rivalisiert hatten. Cowboy Rose hatte die Abstimmung gewonnen und dann das Wahlergebnis ungültig gemacht, weil es mitten in der Nacht vor der öffentlichen Bekanntmachung die Gerichtsaktenaus Woolybucket stahl. Das Abstimmungsergebnis war ohnehin getürkt gewesen. Ein bejahrter Fährmann namens French John Bullyer hatte einundvierzigmal gewählt, einmal unter seinem eigenen Namen und vierzigmal, indem er sich als seine Söhne ausgab, eine Parade von Bills und Toms und Bucks, bis ihn die Phantasie im Stich ließ und er die Namen der Dinge aufschrieb, auf die sein hilfesuchender Blick gerade fiel, ein Katalog unerschöpflicher Belustigung für die ganze Region. Ein anonymer Spaßvogel ließ einen Grabstein anfertigen und die vierzig Namen darauf eintragen; den Grabstein stahl Jahrzehnte später ein Professor für Amerikanische Geschichte vom Dartmouth College in New Hampshire auf der Durchreise:
     
    Hier ruhet die große Sippschaft der Bullyer,
 mit Haut und Haaren der Lokalpolitik verschrieben.
  Abraham, Abner, Barney, Bill, Shiloh, Ormy, Wach auf,
 Rabbit Eyes, Akme, Teller, Streichhölzer, Spurleg,
 Buck, Abwaschschüssel, Röstblech, Teetasse, Whiskey,
 Chauncey, Caleb, Goldgräber, Aufregung, Garry Owen,
 Hercules, Ichabod, King James, Fäßchen, Branntwein,
 Geld, Stumpen, Neun, Prinz, Federkiel, Robert, Bob,
 Buck, Tom, Kalender, Kerze, Fido, Zeke und Röstblech jun.
 4. April 1887–7. April 1887.
     
    Eines Morgens, der Himmel war voll frischem Blau, noch von keinem Hauch getrübt, steckte Bob Dollar den Kopf zur Tür herein und rief nach LaVon, die nicht antwortete.
    »Ich hole Wasser, LaVon«, sagte er in die Stille und betrat die Küche, wobei er mit der Fliegengittertür absichtlich klapperte. Als sein Wasserkanister halb gefüllt war, fuhr LaVons Lieferwagen vor; sie erschien mit einem großen Karton in den Armen und ging ins Wohnzimmer, das sie zu einem Büro umfunktioniert hatte. Sie setzte den Karton ab, was klang, als wäreer mit Betonklötzen vollgepackt, kam in die Küche zurück, legte ein kleines Foto auf den Tisch, ging zur Kaffeekanne. »Mein Glückstag«, sagte sie.
    »Wieso?«
    »Konnte Tater Crouch seine Notizbücher abschwatzen. Tater ist ziemlich alt, und es grenzt an ein Wunder, daß er mir seine Sachen überläßt. Allerdings nur für eine Woche. Bis nächsten Freitag muß ich durch sein und sie ihm wiederbringen. Vermute, er denkt, daß er vorher nicht ins Gras beißen wird. Ein komischer alter Kauz. Wenn man ihn jetzt sieht, wie er halb verkrüppelt herumhinkt, ein Gesicht wie ein Trockenpilz mit den ganzen Kummerfalten, und dann das Foto hier anschaut, das seine Schwester gemacht hat, als er 1940 die Ranch übernahm – da war er zwanzig und ein prima Arbeiter, verstand sich auf das Vieh wie kein zweiter.« Sie sah auf das Bild, ein kleines Schwarzweißrechteck mit breitem, gezacktem weißem Rand.
    »Ein großer aufgeweckter Junge, und gut sah er aus. Breite Schultern, gute Muskeln, schlank und geschmeidig. Sehen Sie, daß sein Mund leicht geöffnet ist, als wolle er etwas sagen oder lachen? Auf jedem Bild, das ich von ihm kenne, sieht er so aus. Sogar schon als Kind. Heute hat er den Mund auch offenstehen, aber da ist kein Zahn mehr drin seit seinem dreißigsten Lebensjahr, und sein Gebiß benutzt er nicht. Sehen Sie nur, wie ordentlich er das Haar links gescheitelt hat, wie mit dem Lineal, und in die Stirn gekämmt, die über der Hutlinie weiß war. Große Ohren, aber anliegend, weil seine Mutter sie ihm als Baby festgeklebt hat. Das war früher üblich, den Babys die Ohren festzukleben, damit sie nicht abstehen. Habe ich bei meinem Jungen auch gemacht. Gut sieht er aus in seinem weißen Hemd und den frischgebügelten Jeans und den frischgewichsten Sonntagsstiefeln, nicht wahr? Schade, daß die Hosen zu kurz und zu eng sind. Zwanzig Jahre alt und noch nicht ausgewachsen, wenn ich mich recht erinnere. So eng,daß man alles, was er hat, auf der linken Seite sehen kann. Es heißt immer, daß die Männer ihr bestes Stück auf der Seite tragen, auf der sie den Scheitel haben, vielleicht als Gegengewicht zu Rechts- oder Linkshändigkeit. Tater ist Rechtshänder, aber ich wette, daß man ihn heute in durchsichtiges Plastik einwikkeln könnte, ohne daß man was zu sehen bekäme. Schrumpft ganz schön zusammen, wenn sie alt werden. Er ist derjenige, den Sie wegen der

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