Mitten in der großen Krise. Ein »New Deal« für Europa (German Edition)
das typische Muster der langfristigen Dynamik spekulativer Preise: Sie schwanken in »manisch-depressiven« Zyklen um den Bereich des realwirtschaftlichen Gleichgewichts ohne eine Tendenz, zu diesem Gleichgewicht zu konvergieren.
Fazit: Die immer schnellere Spekulation hat nicht nur die Transaktionen auf den Finanzmärkten fast explosiv steigen lassen (Abb. 8, S. 56–57), sondern gleichzeitig die Aktienkurse, Rohstoffpreise und den Eurokurs bis Mitte 2008 in die Höhe getrieben (»manische« Phase). Dadurch wurde das Potenzial für die große Krise aufgebaut (gemeinsam mit dem Boom der Immobilienpreise). Diese breitete sich durch den synchronen Entwertungsprozess der Aktien-, Immobilien- und Rohstoffvermögen immer mehr aus (»depressive« Phase).
5. Realkapitalismus und Finanzkapitalismus
Die Nachkriegsgeschichte wurde von zwei gegensätzlichen Formen einer kapitalistischen Marktwirtschaft geprägt, von Realkapitalismus und Finanzkapitalismus. Die Aufschwungsphase des langen Zyklus wird von realkapitalistischen Rahmenbedingungen geprägt, die Abschwungsphase vom Finanzkapitalismus (Schulmeister, 1998, 2004).
Die wichtigsten Komponenten bzw. Merkmale des Realkapitalismus sind (Übersicht S. 44):
Dominanz eines Interessenbündnisses zwischen Arbeit und Realkapital, die Interessen des Finanzkapitals sind ruhiggestellt.
Das Verhältnis zwischen Unternehmerschaft und Gewerkschaften ist durch eine enge Zusammenarbeit charakterisiert.
Staat und Markt, Konkurrenz und Kooperation werden als einander ergänzende Steuerungssysteme begriffen.
Die Wirtschafts- und Sozialpolitik hat mehrere Ziele im Visier, insbesondere Vollbeschäftigung, ein hohes Wirtschaftswachstum und soziale Sicherheit.
Die Dominanz systemischer Wirtschaftstheorien, welche die Anfälligkeit einer kapitalistischen Wirtschaft für schwere Krisen berücksichtigen (wie der Keynesianismus).
Der Hauptansatz zur Diagnose und Therapie ökonomischer Probleme ist im Keynesianismus systemisch: Man versucht, Probleme aus der Interaktion verschiedener Märkte und Akteure zu begreifen, insbesondere in ihrer Gesamtheit (im Aggregat).
Die Finanzierungsbedingungen fördern die Realwirtschaft: Der Zinssatz wird von den Notenbanken stabil und auf einem unter der Wachstumsrate liegenden Niveau gehalten, die Wechselkurse sind fest, die Rohstoffpreise stabil.
Die Rahmenbedingungen werden durch die Politik also so gesetzt, dass sich Vermögen am besten durch realwirtschaftliche Aktivitäten vermehren lassen.
Der Realkapitalismus kann deshalb als ein Spiel angesehen werden, bei dem der Gesamtkuchen notwendigerweise wächst. Ein solches Positivsummenspiel mildert Verteilungskonflikte erheblich.
Abb. 5: »Boom« und »Bust« des Ölpreises und
technische Handelssignale
Die Kombination von Markt und Staat, von Konkurrenz und Kooperation, von individueller Entfaltung und sozialer Verantwortung, und damit der Versuch einer Integration gesellschaftlicher Gegensätze, prägte die Prosperitätsphase der Nachkriegszeit. Diese Transformation des »hässlichen Kapitalismus« der 1930er Jahre war Resultat des Lernens aus der Weltwirtschaftskrise, zusätzlich gefördert durch den Kalten Krieg.
In politökonomischer Hinsicht lässt sich feststellen: Der Realkapitalismus stellt ein Regime dar, in dem das gemeinsame ökonomische Interesse von Realkapital und Arbeit den Gegensatz ihrer politischen Interessen überwiegt.
Die meisten Merkmale des Finanzkapitalismus sind jenen des Realkapitalismus direkt entgegengesetzt und bedürfen daher keiner Kommentierung (Übersicht 1). Einzelne Elemente sollen ergänzend erläutert werden:
Das »Interessenbündnis« zwischen Real- und Finanzkapital manifestiert sich nicht nur in der Entfesselung der Finanzmärkte, sondern auch in den wirtschaftspolitischen Hauptzielen der Geldwertstabilität, solider Staatsfinanzen und einer sinkenden Staatsquote (alles genuine Finanzkapitalinteressen).
Das politische Hauptziel von Real- und Finanzkapital, Sozialstaat und Gewerkschaften zu schwächen, wird durch den Neoliberalismus wissenschaftlich legitimiert.
Diese auch von den Unternehmern (noch mehr von ihren Vertretern) übernommene Weltanschauung und die darauf basierende Politik von Sozialabbau und Deregulierung verursacht eine zunehmende Entfremdung zwischen den Sozialpartnern.
Die Verlagerung der wirtschaftspolitischen Macht von den Regierungen zu den Notenbanken kommt in Europa insbesondere in der Machtausstattung der Europäischen Zentralbank zum
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