Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt
dort, nicht wahr?“
Vittore wich ihrem Blick aus.
„Ja! Wir haben ihn geschlagen, das stimmt, aber wir haben ihn nicht getötet.“
Sie nickte mechanisch.
„Du hast mich die ganze Zeit belogen. In der Vergangenheit hast du mir immer mal wieder Dinge verschwiegen, nicht wahr? Aber gelogen? Sag mir die Wahrheit, Vittore, hast du mich auch schon immer belogen?“
Er senkte den Blick. „Nein Roberta, nein! Ich wollte doch nur …“
„Hör auf!“ Immer noch hatte sie diese Stimme. Diese Stimme, die kraftlos im Raum schwebte.
„Ich kann es einfach nicht begreifen. Ich kann nicht begreifen, dass du mich mit einer solchen Selbstverständlichkeit …“
„Roberta, ich wollte doch nur, dass du da nicht hineingezogen wirst. Ich wollte doch nur, dass du dir keine Sorgen machst.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Vittore. Ich habe gespürt, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich habe mir Sorgen gemacht, das weißt du!“
Vittore räusperte sich. „Bitte verzeih mir. Es tut mir leid.“
Sie blickte in den Hof hinaus. Auf den noch nackten Zweigen eines großen Fliederbusches wippte eine Meise. Mühelos passte sie sich der Bewegung des dünnen Triebes an, hielt im steten Auf und Ab das Gleichgewicht.
„Ich habe nachgedacht, Vittore. Ich will fort von hier!“
Sie wandte sich ihm zu. In ihren Augen lag jetzt Entschlossenheit. Er sah, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte.
„Ich habe in den letzten Tagen Angst gehabt, Vittore. Um dich, um Luca und um unseren Traum, in einem kleinen Haus bei Neapel alt zu werden. Ich habe keine Angst um dieses Leben hier gehabt.“
Sie wandte den Blick wieder zum Fenster.
Die Meise flog auf, der Fliederzweig zitterte noch einen Augenblick in der Luft.
„Immer wieder verschieben wir es. Seit sechs Jahren verlängern wir den Pachtvertrag. Immer sagst du: ,Ein Jahr noch, es läuft gerade so gut.‘“ Sie wandte sich ihm wieder zu.
„Im Dezember läuft der Vertrag aus. Dann gehe ich nach Neapel zurück!“
Er schluckte. Sie hatte „ich“ gesagt.
„Du willst allein gehen?“
Sie tätschelte seine Hand und nickte. „Wenn du nicht mitkommst, gehe ich auch allein. Seit Stunden sitze ich hier und denke darüber nach. Ich habe mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen können. Jetzt kann ich es!“
Wie ein Band war es ihr immer vorgekommen und so hatte sie es auch genannt. „Was uns verbindet“, hatte sie einmal zu Luca gesagt „ist, dass wir uns blind vertrauen können. Ich könnte mir ein Leben ohne Vittore gar nicht vorstellen.“
Jetzt war dieses Band durchtrennt. Vielleicht hatte Vittore die erste Lüge wirklich ausgesprochen, um sie zu schonen. Wie klein die Dinge anfingen. Eine kleine Unwahrheit, die tausend Unwahrheiten brauchte, um nicht entdeckt zu werden. Welches Gewicht sie bekamen. Wie sie die Zukunft zerquetschten.
Vittore dachte an seine schlaflose Nacht zurück. Er hatte darüber nachgedacht, ab wann alles schiefgelaufen war. Vielleicht hatte Roberta Recht. Vielleicht war es passiert, als er vor sechs Jahren von seinen ursprünglichen Plänen abgerückt war und den Pachtvertrag verlängert hatte.
Er zog Roberta an sich und küsste sie.
„Ende des Jahres ist Schluss, Roberta. Ich verspreche es.“
Dann sah er auf die Uhr und sprang auf.
„Wir müssen runter. Aufmachen.“
Sie blickte ihm nach und schüttelte resigniert den Kopf.
Er hatte es nicht verstanden!
43
Es dämmerte bereits, als Joop in der Akte Koller endlich den Hinweis fand. Koller hatte vier Kinder. Natürlich. Grube hatte es in einer der ersten Besprechungen erwähnt. Aber Frau Koller hatte von dreien gesprochen. Und Linda hatte auch nur drei gesehen. Er stand auf, streckte sich und stellte sich ans Fenster. Der Himmel hatte jetzt ein wässriges Blau, das sich in der Ferne im gelblichen Restlicht des endenden Tages verlor. Die hochgewachsene Weide vor dem Fenster zeigte sich als schwarze Silhouette. Äste, Zweige und Knospen lagen gestochen scharf vor dem Abendhimmel wie Reliefarbeiten eines großen Meisters.
Jetzt war es zu spät, aber morgen würde er sich als Erstes mit dem Jugendamt in Verbindung setzen. Vielleicht lebte das vierte Kind nicht zu Hause. Vielleicht hatte Frau Koller deswegen so merkwürdig reagiert, weil sie eines ihrer Kinder weggegeben hatte. Er hatte diesen Kummer gespürt, als sie das Foto betrachtet hatte.
Linda klopfte an die offene Tür und rief triumphierend: „Vincent hat angerufen. Wir haben einen Namen zu unserem Phantombild. Berger hat ihn
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