Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternacht

Mitternacht

Titel: Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
Vom Netzwerk:
Verstand ausdehnten. Sie würden ihn für naseweis halten; noch schlimmer, sie könnten ihn als Spanner verurteilen, als elenden Eindringling.
    Das war nicht der Fall. Harry Talbot hatte sich strenge Re geln gesetzt, was Teleskop und Fernglas anbelangte, und an diese hielt er sich felsenfest. Zuallererst würde er niemals versuchen, eine nackte Frau zu beobachten.
    Arnella Scarlatti wohnte drei Häuser nördlich auf der anderen Straßenseite, und er hatte versehentlich einmal herausgefunden, daß sie manche Abende nackt im Schlafzimmer verbrachte und Musik hörte oder las. Sie hatte nur das Nachttischlämpchen eingeschaltet, vor den Fenstern hingen Gaze schleier, und sie ging nie ans Fenster, daher hielt sie es nicht für nötig, immer die Vorhänge zuzuziehen. Tatsächlich hätte niemand sie sehen können, der nicht über Harrys Ausrü stung verfügte. Arnella war hübsch. Harry hatte ihren makellosen Körper selbst durch den Gazestoff und im schwachen Licht deutlich erkennen können. Ihre Nacktheit hatte ihn verblüfft, die sinnlichen Wölbungen ihres langbeinigen Körpers mit den vollen Brüsten hatten ihn gebannt und fasziniert, und daher hatte er sie vielleicht eine Minute lang betrachtet. Dann hatte er das Teleskop von ihr weggedreht, weil er heiße Verlegenheit verspürt hatte, aber ebenso heißes Verlangen. Harry hatte zwar seit über zwanzig Jahren keine Frau mehr gehabt, aber er war trotzdem nicht wieder in Arnellas Schlafzimmer eingedrungen. Morgens hatte er in einem anderen Winkel oft in das Seitenfenster ihrer kleinen, blitzsauberen Küche im Erdgeschoß gesehen und sie beim Frühstück beobachtet, ihr perfektes Gesicht, während sie ihren Saft trank und Brötchen oder Toast und Eier aß. Sie war so wunderschön, daß ihm die Worte dafür fehlten, und nach allem, was er über ihr Leben wußte, schien sie auch sehr nett zu sein. Er schätzte, daß er sie irgendwie liebte, so wie ein Junge eine Lehrerin lieben mochte, die ihm immer fern sein würde, aber er benützte diese unerfüllte Liebe niemals als Ausrede, ihren entkleideten Körper mit seinen Blicken zu liebkosen. Er sah auch weg, wenn er andere Nachbarn in einer pein lichen Situation erwischte. Er sah zu, wenn sie miteinander stritten, ja, und wenn sie miteinander lachten, aßen, Karten spielten, bei ihrer Diät mogelten, Geschirr spülten und die zahllosen anderen Vorgänge des täglichen Lebens ausführten, aber nicht, weil er bei ihren Dreck am Stecken herausfin den oder sich ihnen überlegen fühlen wollte. Sie zu beobachten, verschaffte ihm keinen billigen Kitzel. Er wollte an ihrem Leben teilhaben, wollte sie erreichen - und sei es nur einseitig - und eine Art ferne Familie aus ihnen machen; er wollte Gründe erhalten, daß ihm etwas an ihnen lag, um dadurch ein erfüllteres Gefühlsleben zu haben.
    Der Fahrstuhl summte wieder. Moose war offenbar in der Küche gewesen, hatte eine der vier Türen des Kühlschranks unter der Arbeitsplatte geöffnet und eine kalte Dose Coors herausgeholt. Jetzt kam er mit dem Bier zurück.
    Harry Talbot war ein geselliger Mensch; als er mit nur einem gebrauchsfähigen Körperteil aus dem Krieg heimgekommen war, hatte man ihm den Rat gegeben, in ein Pflegeheim für Körperbehinderte zu gehen, wo er ein geselliges Leben in verständnisvoller Umgebung führen könnte. Die ärztlichen Ratgeber warnten ihn, daß er nicht akzeptiert werden würde, wenn er versuchte, in der Welt der Norma len und Gesunden zu leben; sie sagten, die meisten Menschen würden ihn mit unbewußter, aber dennoch schmerzhafter Grausamkeit begegnen, besonders der Grausamkeit gedankenlosen Ausschließens, und er würde schließlich in eine schreckliche und tiefe Einsamkeit verfallen. Aber Harry war ebenso störrisch wie gesellig, und die Aussicht, in einem Pflegeheim und nur in Gesellschaft von anderen Behin derten und Pflegepersonal zu leben, schien schlimmer zu sein als gar keine Gesellschaft. Jetzt lebte er allein, abgesehen von Moose, und hatte nur wenige Besucher, außer der Haushälterin, Mrs. Hunsbok (vor der er Teleskop und Fern glas in einem Schrank versteckte), die einmal wöchentlich kam. Vieles, wovor die Ärzte ihn gewarnt hatten, erwies sich im täglichen Leben als wahr; aber sie hatten nicht mit Harrys Fähigkeit gerechnet, hinreichend Trost und ein Ge fühl der Familienzugehörigkeit durch heimliche, aber freundschaftliche Beobachtung seiner Nachbarn zu finden. Der Fahrstuhl kam im dritten Stock an. Die Tür ging auf, und Moose

Weitere Kostenlose Bücher