Mitternachtserwachen
für richtig erachten. Sie lehnte ihren Kopf gegen Liors Brustkorb und genoss es für einen Augenblick, hilflos, zudem verdammt weiblich zu sein. Für heute hatte sie genügend Mut bewiesen.
Doch er sollte nur nicht glauben, dass er die Schlacht bereits gewonnen hatte. Sie gab nach, weil es ihr in diesem Moment als das Beste erschien.
Lior stellte sie vor dem schmiedeeisernen Zaun auf die Füße und lächelte sie goldig wie eine Hyäne an. „Überleg dir gut, Marbhadair, mit wem du dich anlegst.“
Morven rollte mit den Augen, und Aileen biss sich auf die Zunge.
„Wollt ihr mit zu uns kommen, Lior? Ich verspüre keine Lust, auf Nosferat zu treffen. Für dieses Jahr habe ich genug von seinen Spielchen.“ Kendrick hielt Morven mit einem Arm umschlungen, nachdem er sie hingestellt hatte. Die Armanach hatte Mühe zu stehen. „Du bist ausgehungert, Fleur.“
Diesmal simulierte Morven nicht. Sie hatte für Kendrick und Lior alles riskiert. Aileen küsste sie impulsiv auf die Wange.
Der Himmel zeigte das erste Licht und tauchte den Friedhof in eine friedliche Atmosphäre. Die ganze bedrohliche Stimmung löste sich auf, bis nur die schlummernden Toten verblieben. Sie wusste, dass sie es verdrängte, doch sie traute sich nicht, Lior zu fragen, was außer dem Flattermonster noch in dem Sarg gelegen hatte. Ihre Träume brachen an die Oberfläche, erfüllten sie derart mit Schrecken, dass ihr ein Wimmern entfuhr. Hatten sie Ralph wirklich lebendig begraben und er hatte sich in dieses Ding verwandelt?
Lior zog sie dicht an seinen Körper, und diesmal war sie froh, dass er ihre Gedanken lesen konnte. „Das, was uns angegriffen hat, war nicht Ralph, sondern ein Handlanger des Bösen, mit dem er sich befasst hat. Allerdings trägt er die Essenz von Ralph in sich. Daher erschien dir die Kreatur so vertraut, jedes Mal wenn du sie gesehen hast.“
Was hatte Ralph nur getan? Ihr fehlte die Vorstellungskraft, dass er sich wissentlich mit Kräften eingelassen hatte, um für sich selbst einen Vorteil zu erzielen.
Aileen ahnte, dass Lior ihr Wichtiges vorenthielt. Aber vielleicht war es besser, nicht alles zu erfahren, bis sie sich ausgeruht und etwas gegessen hatte.
Sie dachte an Ralph, sein sanftes Lächeln, wie loyal er gewesen war und wie sehr er sich verändert hatte, sobald sie in The Lily gezogen waren. Er war ein völlig anderer Mann geworden, und sie hatte die ersten Anzeichen auf den Stress zurückgeführt, den er im Job hatte, da er mehrere große Aufträge auf einmal bearbeitete. Und die meisten Paare stritten sich bei Umzügen. Wie kalt und gefühllos er gewesen war, erkannte sie jetzt deutlich, nachdem sie Abstand gewonnen hatte. Einerseits wirkte das Vergangene klarer, und andererseits verwirrte es sie, weil sie nicht wusste, was mit Ralph und ihr geschehen war. Was immer Ralph getan hatte, es zeigte bei ihr Wirkung.
Sie sprang von dem Gedankenkarussell ab und fand Ruhe bei Lior, auch wenn er furchtbar wütend auf sie war. Irgendwie verdiente sie seinen Zorn. Sie hätten sich an die Lugus oder Mephistopheles wenden können, um mit Verstärkung auf dem Friedhof aufzukreuzen. Sie waren leichtsinnig gewesen, und doch bereute sie es nicht. Aileen hatte das Gefühl, alles war genauso geschehen, wie es vorherbestimmt gewesen war.
„Hast du eigentlich den Dolch der Mitternachtswende eingesteckt?“
„Nein, es ist deine Waffe, für mich nutzlos.“
„Ich könnte schwören, dass ich sie auf den Tisch in deinem Schlafzimmer gelegt habe.“ Vielleicht hatte sie die Klinge im Dämonenreich zurückgelassen. Bei den sich überschlagenden Ereignissen wäre es kein Wunder.
Kendrick fuchtelte am Schloss des Tors herum, und nach wenigen Sekunden hatte er es geöffnet, derweil Lior sie die ganze Zeit musterte, bis sie nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Die Söldner hatten vor dem Ausgang geparkt. Kendrick drückte auf die Fernbedienung und half Morven auf die Rücksitzbank. Morven war kreidebleich, und Kendrick litt mit ihr, sie sah es ihm deutlich an. Er setzte sich neben den Apfel der Sünde, der Adam mit dem kleinen Finger im Paradies verführt hätte, Morven, die so viel Stärke besaß, jetzt so hilflos wirkte, und zog sie in seine Arme.
Lior führte Aileen auf die andere Seite des schwarzen Geländewagens, öffnete ihr die Beifahrertür, packte sie unvermittelt und küsste sie hart auf den Mund. Damit vermochte sie zu leben, besser als würde er ihren Po mit seinem Brandzeichen versehen.
Seine Mundwinkel
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