Mitternachtsfalken: Roman
an so etwas heranzukommen war.
Doch unmittelbar vor Ort zeigte es sich, dass die Aufgabe schwieriger war, als er sie sich aus der Entfernung vorgestellt hatte. Ein Anflug von Panik durchfuhr ihn. Ohne das Seil konnte die Hornet Moth nicht fliegen. Erst der Gedanke an das Opfer, das sein Bruder gebracht hatte, half ihm dabei, sich wieder zu beruhigen. Er rief sich zur Ordnung: Wenn du einen kühlen Kopf behältst, findest du vielleicht noch eine Möglichkeit.
»Ich hatte vor, die Sachen an Ihre Eltern zu schicken«, sagte Renthe.
»Das erledige ich schon.« Harald fragte sich, ob er sich Renthe anvertrauen konnte.
»Ich habe nur deshalb noch gezögert, weil mir einfiel, dass sie vielleicht an seine Verlobte geschickt werden sollten.«
»An Hermia?«, fragte Harald überrascht. »Nach England?«
»Ist sie wieder in England? Vor drei Tagen war sie hier.«
Das war eine unerwartete Nachricht. »Was hat sie denn hier gemacht?«, fragte Harald verblüfft.
»Ich nahm an, dass sie die dänische Staatsbürgerschaft angenommen hat und hier lebt. Denn wenn dem nicht so wäre, dann wäre ihr Aufenthalt in Dänemark illegal, und ich wäre verpflichtet gewesen, ihren Besuch der Polizei zu melden. Aber es liegt ja auf der Hand, dass sie in diesem Fall gar nicht erst zu mir gekommen wäre. Sie weiß doch sicher, dass ich als Heeresoffizier verpflichtet bin, Gesetzeswidrigkeiten jedweder Art der Polizei zu melden, nicht wahr?«
Er blickte Harald unverwandt in die Augen und fügte hinzu: »Sie verstehen, was ich meine?«
»Ich glaube schon.« Harald erkannte, dass Renthe versuchte, ihm durch die Blume etwas mitzuteilen: Der Flugplatzkommandant hatte den Verdacht, dass er, Hermia und Arne in eine Spionageaffäre verwickelt waren, und wollte mit seiner Rede zum Ausdruck bringen, dass er aus Haralds Mund kein Wort über diese Geschichte zu hören wünschte. Renthe sympathisierte zwar mit ihnen, war jedoch nicht gewillt, gegen irgendwelche Vorschriften zu verstoßen. Harald stand auf. »Sie haben sich sehr klar ausgedrückt – vielen Dank.«
»Ich lasse jemanden rufen, der Sie zu Arnes Unterkunft bringt.«
»Das ist nicht nötig, da finde ich schon allein hin.« Er hatte Arnes Stube erst vor zwei Wochen anlässlich des Flugs mit der Tiger Moth gesehen.
Renthe schüttelte ihm die Hand. »Mein tiefempfundenes Beileid.«
»Danke.«
Harald verließ das Stabsgebäude und schlenderte die einzige Straße entlang, die die flachen Flugplatzgebäude miteinander verband. Er ließ sich Zeit und warf einen Blick in jeden Hangar.
Viel war nicht los – kein Wunder: Was gab es schon viel zu tun auf einem Fliegerhorst, auf dem die Flugzeuge nicht fliegen durften?
Er wusste nicht recht, wie er es anstellen sollte. Das benötigte Stahlseil gab es hier irgendwo. Er musste bloß herausfinden, wo, und es sich dann schnappen. Aber so einfach, wie es klang, war es leider nicht.
In einem Hangar sah er eine Tiger Moth, die komplett auseinander genommen worden war. Die Tragflächen waren abmontiert, das Fahrwerk stand auf Böcken und der Motor auf einem Ständer. Haralds Hoffnung wuchs. Er trat durch das riesige Tor. Ein Flugwart im Overall saß auf einem Ölkanister und trank Tee aus einem großen Becher. »Das ist ja toll«, sprach Harald ihn an. »So in alle Einzelteile zerlegt habe ich noch keine gesehen.«
»Vorschrift«, antwortete der Mann. »Manche Teile nutzen sich ab und können dann während des Fluges plötzlich ausfallen. Das darf nicht passieren. Bei einem Flugzeug muss immer alles perfekt sein,
sonst fällst du vom Himmel.«
Eine ernüchternde Erkenntnis, fand Harald. Er plante einen Flug über die Nordsee in einer Maschine, die schon seit Jahren nicht mehr ordnungsgemäß gewartet worden war. »Dann ersetzen Sie also alles?«
»Alles, was sich bewegt, ja.«
Harald kam der optimistische Gedanke, dass dieser Mann ihm vielleicht geben konnte, was er brauchte. »Da müssen Sie aber einen Haufen Ersatzteile vorrätig haben.«
»Ja, das kann man wohl sagen.«
»Und jedes Flugzeug braucht so um die dreißig Meter Stahlseil, oder?«
»Eine Tiger Moth braucht genau dreiundfünfzig Meter genormtes und auf Gewicht geeichtes Stahlseil.«
Und genau davon brauche ich lumpige fünfzehn Meter, dachte Harald mit wachsender Erregung. Doch wieder traute er sich nicht, darum zu bitten, weil er befürchten musste, sich gegenüber einem Menschen zu verraten, der möglicherweise auf der anderen Seite stand. Er sah sich um. Irgendwie hatte er
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