Mitternachtsfalken: Roman
sich vorgestellt, dass auf dem Fliegerhorst die Flugzeugteile nur so herumlagen, sodass man sie bloß aufzuheben brauchte. »Wo wird denn das alles aufbewahrt?«, fragte er.
»Im Lager natürlich. Wir sind hier bei der Armee, da hat alles seine Ordnung.«
Harald war nahe am Verzweifeln. Mein Gott, dachte er, warum kann man hier nicht einfach mitnehmen, was man braucht.? Aber es rührte zu nichts, sich eine einfache Lösung herbeizuwünschen. »Wo ist denn das Lager?«
»Gleich nebenan, im nächsten Gebäude.« Der Flugwart runzelte die Stirn. »Was soll die Fragerei?«
»Reine Neugier.« Mehr war aus dem Mann nicht herauszuholen, fand Harald und merkte, dass es besser war, zu verschwinden, bevor sein Gesprächspartner ernstlich misstrauisch wurde. Er drehte sich um und hob die Hand zum Abschied. »War ganz interessant, mit Ihnen zu reden.«
Er ging eine Tür weiter und betrat das Lager. Hinter einer Art Schalter saß ein Feldwebel, der eine Zigarette rauchte und die Zeitung las. Harald erkannte ein Bild von kapitulierenden russischen Soldaten und die Überschrift: STALIN ÜBERNIMMT SOWJETISCHES VERTEIDIGUNGSMINISTERIUM.
Hinter dem Schalter zogen sich mehrere Reihen Stahlregale hin. Harald kam sich vor wie ein Kind im Süßwarengeschäft: Hier gab es alles, was sein Herz begehrte, vom Dichtungsring bis hin zum Motor. Aus den Ersatzteilen, die hier lagerten, hätte er ein komplettes Flugzeug zusammenbauen können.
Und eine ganze Abteilung des Lagers war allein den Kabeln und Seilen vorbehalten, ganze Kilometer davon, dicke, dünne und alle Zwischenstufen, ordentlich auf Holzspulen gerollt wie Wollgarn.
Haralds Herz schlug höher. Wo sich das gesuchte Stahlseil befand, wusste er jetzt. Nun musste er nur noch herausfinden, wie er drankam.
Der Feldwebel blickte von seiner Zeitung auf und fragte: »Was gibt‘s?«
Ließ sich der Mann vielleicht bestechen? Wieder zögerte Harald. Er hatte zwar eine Tasche voller Geld, das ihm Karen extra zu diesem Zweck mitgegeben hatte, aber er wusste nicht, wie man ein entsprechendes Angebot formulierte. Selbst ein korrupter Lagerverwalter fühlte sich womöglich beleidigt, wenn man mit einem unverhüllten Bestechungsversuch an ihn herantrat. Harald ärgerte sich, dass er sich keine Strategie zurechtgelegt hatte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu improvisieren. »Darf ich Sie mal was fragen?«, sagte er. »Diese ganzen Ersatzteile – gibt‘s da irgendeine Möglichkeit, dass man. Ich meine, dass man als Zivilist davon was kaufen könnte?«
»Nein«, sagte der Feldwebel gerade heraus.
»Und wenn der Preis, wissen Sie. Wenn der Preis keine Rolle spielt.«
»Nichts zu machen.«
Harald wusste nicht, was er noch hätte sagen können. »Sollte ich Sie beleidigt haben.«
»Schon gut.«
Wenigstens rief er nicht gleich die Polizei. Harald wandte sich zum Gehen.
Die Tür war aus solidem dickem Holz und hatte drei Schlösser, bemerkte er beim Hinausgehen. Ein Einbruch in dieses Lagerhaus wäre alles andere als ein Spaziergang, dachte er. Vielleicht bin ich nicht der erste Zivilist, der auf die Idee kommt, dass man sich rare Ersatzteile beim Militär besorgen kann.
Er war am Ende seines Lateins. Niedergeschlagen machte er sich auf den Weg zu den Offiziersunterkünften und ging in Arnes Stube. Genau wie Renthe gesagt hatte, standen die beiden gepackten Taschen am Fußende des Bettes bereit. Die Wände waren kahl.
Er empfand es als schmerzlich, dass das gesamte Leben seines Bruders in gerade mal zwei Reisetaschen passte und dass darüber hinaus in seinem Zimmer keine Spur mehr von ihm zu entdecken war. Der Gedanke daran trieb Harald erneut die Tränen in die Augen. Doch dann sagte er sich: Wichtig ist allein, was ein Mensch in den Köpfen anderer hinterlässt. In seiner Erinnerung würde Arne immer lebendig bleiben – der große Bruder, der ihm das Pfeifen beibrachte -, dessen Späße Mutter kichern ließen wie ein Schulmadchen; Arne, vor dem Spiegel stehend und sein glänzendes Haar kämmend. Harald musste an das letzte Mal denken, da er seinen Bruder gesehen hatte: Da saß er auf den Steinfliesen in der alten Kirche von Kirstenslot, erschöpft und verängstigt, aber fest entschlossen, seine Mission zu erfüllen. Und erneut wurde Harald klar, dass es nur einen Weg gab, Arnes Andenken zu ehren: Er selbst, Harald Olufsen, musste die Aufgabe, die sein Bruder begonnen hatte, zu einem erfolgreichen Ende führen.
Ein Unteroffizier erschien in der Tür und fragte: »Sind Sie
Weitere Kostenlose Bücher