Mitternachtsfalken: Roman
ihn nicht an, sondern melden sich telefonisch bei uns im Politigaarden.«
»Wollen Sie mir keine Unterstützung schicken?«
»Nein. Wir wollen Harald ja nicht vertreiben. Wenn er Sie sieht, wird ihn das nicht sonderlich stören – Sie sind ja nur der Dorfpolizist. Fremde Kollegen könnten ihn dagegen vergraulen. Ich will nicht, dass er sich aus dem Staub macht und anderswo untertaucht. Wir wissen jetzt, wo er sich verbirgt, und dürfen seine Spur nicht wieder verlieren. Ist das klar?«
»Jawohl.«
»Wenn er allerdings versuchen sollte, mit diesem Flugzeug wegzufliegen, halten Sie ihn auf.«
»Soll ich ihn verhaften?«
»Erschießen Sie ihn notfalls – aber lassen Sie ihn um Gottes willen nicht abheben.«
Harald fand den sachlichen Ton absolut grauenerregend. Ein dramatisches Wortgeklingel hätte ihm vermutlich nicht halb so viel Angst eingejagt. Aber da sprach eine attraktive Frau in aller Ruhe und Gelassenheit über simple Fakten und Abläufe – und hatte in diesem Zusammenhang soeben angeordnet, ihn, Harald, »notfalls« zu erschießen! Die Möglichkeit, dass die Polizei ihn einfach umlegen könnte, hatte Harald bisher nicht in Betracht gezogen. Die ruhige Gnadenlosigkeit der Frau Jespersen erschütterte ihn zutiefst.
»Öffnen Sie diese Tür hier«, sagte sie zu Hansen, »damit es mir erspart bleibt, noch einmal durch das Fenster zu hampeln. Schließen Sie sie wieder ab, wenn ich fort bin, damit Olufsen nicht misstrauisch wird.«
Hansen schloss auf und entfernte die Stange. Dann gingen beide hinaus.
Harald sprang zu Boden, drückte sich um die Hinterseite der Kirche herum und suchte Schutz hinter einem Baum. Aus der Entfernung sah er Frau Jespersen zu ihrem Auto gehen, einem schwarzen Buick. Sie betrachtete ihr Spiegelbild im Fenster des Wagens und rückte mit einer ausgesprochen femininen Geste ihre Baskenmütze zurecht. Dann nahm sie wieder eine offizielle Haltung an, schüttelte Hansen kurz die Hand, stieg ins Auto und fuhr rasch davon.
Hansen kam zurück und verschwand hinter der Kirche, sodass Harald ihn nicht mehr sehen konnte.
Harald lehnte sich an einen Baum und dachte nach. Karen hatte versprochen, gleich nach ihrer Rückkehr vom Ballett zur Kirche zu kommen. Gut möglich, dass sie dann bereits von der Polizei erwartet wurde. Wie sollte sie ihr Verhalten erklären? Ihre Schuld wäre offensichtlich.
Ich muss sie irgendwie abfangen, dachte Harald. Er überlegte, wie er sie abpassen und warnen konnte, und entschied schließlich, dass dies wohl am besten gleich im Theater geschah. Dort war die Gefahr, sie zu verpassen, wohl am geringsten.
Einen Augenblick lang ärgerte er sich über sie. Wären wir gestern geflogen, könnten wir jetzt schon in England sein, dachte er. Ich habe sie gewarnt, und nun hat sich herausgestellt, dass ich Recht hatte. Er sah jedoch schnell ein, dass Vorwürfe ihnen jetzt auch nicht weiterhalfen. Was geschehen war, war geschehen; er musste nun eben die neuen Gegebenheiten berücksichtigen.
In diesem Augenblick kam völlig unerwartet Hansen um die Kirche herum. Er erblickte Harald und blieb wie angewurzelt stehen.
Sie waren beide völlig überrascht. Harald hatte angenommen, der Dorfpolizist wäre in die Kirche zurückgegangen, um sie abzuschließen, während Hansen seinerseits nicht ahnen konnte, dass sich seine Beute in unmittelbarer Nähe befand. Sekundenlang standen sie sich wie gelähmt gegenüber und starrten einander an.
Dann griff Hansen nach seiner Pistole.
Frau Jespersens Worte schossen Harald durch den Kopf: »Erschießen Sie ihn notfalls.« Hansen, der Dorfgendarm, hatte wahrscheinlich noch nie in seinem Leben auf einen Menschen geschossen. Aber vielleicht kam ihm diese Chance ja gerade recht.
Harald reagierte instinktiv. Ohne an die Folgen zu denken, stürzte er auf Hansen zu. Als der seine Pistole aus dem Holster zog, rannte Harald ihn einfach über den Haufen. Hansen wurde zurückgeschleudert und krachte, ohne dabei seine Pistole loszulassen, gegen die Kirchenmauer.
Er hob die Waffe. Harald erkannte, dass ihm nur noch Sekundenbruchteile blieben, wenn er sich selber retten wollte. Er holte aus und traf Hansen mit der Faust genau auf die Kinnspitze. Es war ein Schlag mit der vollen Wucht der Verzweiflung. Hansens Kopf schnellte zurück und krachte gegen die Backsteinmauer. Es klang wie ein Gewehrschuss. Die Augen des Dorfpolizisten verdrehten sich, und sein Körper sackte zusammen.
Harald packte das Entsetzen. Hatte er Hansen getötet? Er kniete
Weitere Kostenlose Bücher