Mitternachtsfalken: Roman
wieder hell. Die See war ungewöhnlich ruhig. Morgennebel stieg von der Meeresoberfläche auf, sodass die Sicht erheblich eingeschränkt war. Hermia fühlte sich dadurch sicherer. Doch ihre Nervosität stieg, je weiter sie nach Süden kamen. Sie musste das Signal jetzt eigentlich bald empfangen. Gelang es ihr nicht, so bedeutete dies, dass Hoare und sie selbst aufs falsche Pferd gesetzt hatten und Herbert Woodie am Ende doch Recht behielt.
Sten kam an Deck, in der einen Hand einen großen Becher Tee, in der anderen ein Brötchen mit Speck. »Nun, wie sieht‘s aus?«, wollte er wissen. »Haben Sie gefunden, was Sie suchen?«
»Höchstwahrscheinlich kommt das Signal aus Süddänemark«, sagte sie.
»Oder nirgendwoher.«
Hermia nickte verzagt. »Allmählich fange ich an zu glauben, dass Sie Recht haben.« In diesem Augenblick hörte sie etwas. »Warten Siel«, rief sie. Sie hatte wieder die Frequenzen von unten nach oben durchsucht und glaubte, einen musikalischen Ton gehört zu haben. Sie drehte den Knopf zurück und suchte die genaue Stelle. Es rauschte furchtbar – und dann hörte sie den Ton wieder, einen reinen, maschinenartigen Ton, ungefähr eine Oktave über dem eingestrichenen C. »Das könnte es sein, glaube ich!«, jubelte sie. Die Wellenlange betrug 2,4 Meter. Sie vermerkte es in dem kleinen Notizbuch, das Hoare ihr noch in den Koffer gesteckt hatte.
Jetzt musste sie die Richtung bestimmen, aus der der Ton kam. In den Empfänger eingebaut war eine Skala, die in Teilstriche von 1 bis 360 Grad unterteilt war. Eine Nadel deutete auf den Ursprung des Signals. Hoare hatte großen Wert darauf gelegt, dass die Skala genau auf die Mittellinie des Trawlers eingestellt sein musste. War dies der Fall, so konnte man die Richtung, aus der das Signal kam, vom Kurs des Schiffes her berechnen.
»Lars!«, rief Hermia. »Was ist unser Kurs?«
»Ostsüdost«, sagte er.
»Nein, genau!«
»Also.« Trotz des guten Wetters und der ruhigen See war der Trawler ständig in Bewegung, und der Kompass stand niemals still.
»So gut es geht!«, rief Hermia.
»Einhundertundzwanzig Grad.«
Die Nadel auf der Skala stand auf 340 Grad. Addierte man die 120 hinzu, kam man auf etwa 100. Hermia notierte die Zahlen. »Und unsere Position?«
»Warten Sie einen Moment. Als ich die Sterne geschossen hab, kreuzten wir gerade den sechsundfünfzigsten Breitengrad.« Er warf einen Blick aufs Logbuch, sah auf seine Armbanduhr und rief Hermia die Länge und Breite der gegenwärtigen Position zu. Hermia schrieb die Zahlen auf, wohl wissend, dass es sich dabei nur um Schätzungen handelte.
»Sind Sie jetzt zufrieden?«, wollte Sten wissen. »Können wir jetzt auf Heimatkurs gehen?«
»Ich brauche noch einmal die Werte, um eine Kreuzpeilung durchführen zu können.«
Sten brachte nur ein verdrießliches Grunzen hervor und schlurfte davon.
Lars blinzelte ihr zu.
Der Trawler blieb auf Südkurs, und Hermia blieb dem Ton auf der Spur. Die Nadel auf dem Richtungsfinder bewegte sich nur minimal. Nach einer halben Stunde erkundigte sie sich bei Lars erneut nach dem Kurs.
»Immer noch eins-zwanzig.«
Die Nadel auf der Skala deutete inzwischen auf 335, die Richtung, aus der das Signal kam, lag daher bei 095. Wieder bat sie Lars um eine Positionsschätzung und schrieb die Zahlen auf.
»Nach Hause?«, fragte er.
»Ja. Und vielen Dank.«
Er drehte das Steuerrad.
Hermia war überglücklich über ihren Erfolg und konnte es gar nicht abwarten, den Sender zu lokalisieren. Sie ging ins Ruderhaus und suchte sich eine große Karte heraus. Mit Lars‘ Hilfe markierte sie die beiden Positionen, die sie notiert hatte, verband sie durch Linien mit der Peilung des Senders und berücksichtigte die magnetische Missweisung. Die Linien kreuzten sich vor der Küste der kleinen Insel Sande.
»Mein Gott«, sagte Hermia. »Da kommt mein Verlobter her.«
»Sande? Das kenn ich. Ich war dort vor ein paar Jahren mal beim Autorennen.«
Hermia hätte jubeln können vor Freude. Ihre Vermutung hatte sich bestätigt, und ihre Peilung war erfolgreich gewesen. Das Signal kam aus einem Gebiet, das nach allen logischen Kriterien der ideale Standort für einen Radarsender war.
Ihre nächste Aufgabe bestand nun darin, Poul Kirke oder einen seiner Mitarbeiter nach Sande zu schicken. Sie sollten sich dort ein bisschen umsehen. Hermia beschloss, Poul eine verschlüsselte Botschaft zu übermitteln, sobald sie wieder in Bletchley war.
Ein paar Minuten später machte sie eine
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