Mitternachtsfalken: Roman
alles.«
»Aha«, sagte Flemming mit einem zufriedenen Lächeln. »Das Gemeindezentrum! Und wo befindet sich das?«
»In der Ny Kongensgade, in der Nähe von Christiansborg.«
Das war nur knapp zwei Kilometer entfernt. »Dresler«, sagte Flemming, »passen Sie eine Viertelstunde auf unseren Freund hier auf. Ich möchte nicht, dass er jemanden warnt.«
Sie fuhren in die Ny Kongensgade. Das Jüdische Gemeindezentrum war ein großes Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert mit einem Innenhof und einem eleganten, wenngleich renovierungsbedürftigen Treppenhaus. Die Cafeteria war geschlossen, und im Keller spielte niemand Tischtennis. Das Büro wurde geleitet von einem gut gekleideten, etwas hochnäsig wirkenden jungen Mann. Nein, sagte er, Namens- und Adressenlisten habe er keine. Die Polizisten durchsuchten das Haus trotzdem.
Der junge Mann hieß Ingemar Gammel, und irgendetwas an ihm machte Flemming stutzig. Aber was? Anders als Rasmussen hatte Gammel keine Angst. Doch während bei Rasmussen der Eindruck überwog, dass er sich fürchtete, aber unschuldig war, schien bei Gammel eher das Gegenteil der Fall zu sein.
Gammel saß an einem Schreibtisch. Er trug eine Weste mit einer
Uhrkette und sah in aller Gelassenheit zu, wie die Polizisten sein Büro auf den Kopf stellten. Seine Garderobe sah sehr teuer aus. Wieso fungierte ein wohlhabender junger Mann hier als eine Art Sekretär? Solche Arbeiten wurden normalerweise von unterbezahlten Mädchen erledigt – oder von Hausfrauen aus der Mittelklasse, deren Kinder bereits flügge waren.
»Hier, Chef«, sagte Conrad, »ich glaube, das ist das, wonach wir suchen.« Er reichte Flemming einen schwarzen Ringordner. »Eine Liste mit lauter Rattenlöchern.«
Flemming warf einen Bück hinein und sah seitenweise Namen und Adressen aufgeführt, insgesamt sicher einige Hundert. »Volltreffer«, sagte er. »Sehr schön.« Doch sein Gespür sagte ihm, dass hier noch mehr zu finden war. »Suchen Sie weiter, meine Herren! Kann durchaus sein, dass noch etwas zum Vorschein kommt.«
In der Hoffnung, etwas Merkwürdiges, etwas Vertrautes – irgendetwas eben – zu finden, blätterte Flemming die Seiten durch. Er handelte allein aus dem Gefühl heraus, dass damit etwas nicht stimmte. Aber ihm fiel nichts Besonderes auf.
An einem Haken hinter der Tür hing Gammels Jackett. Flemming las das Etikett. Der Anzug war 1938 von Anderson & Sheppard in der Londoner Savile Row geschneidert worden. Das weckte Flemmings Neid. Er selbst kaufte seine Kleider bei den besten Adressen in Kopenhagen, hätte sich aber niemals einen englischen Anzug leisten können. In der äußeren Brusttasche steckte ein Seidentaschentuch. Eine gut bestückte Geldscheinklammer fand sich in der linken Seitentasche. Aus der rechten zog Flemming eine Rückfahrkarte nach Aarhus, die vom Entwerter des Zugschaffners einmal gelocht war. »Warum sind Sie nach Aarhus gefahren?«
»Um Freunde zu besuchen.«
Flemming erinnerte sich, dass die dechiffrierte Botschaft den Namen des in Aarhus stationierten deutschen Regiments enthalten hatte. Allerdings war Aarhus die zweitgrößte Stadt des Landes, und es gab Hunderte von Menschen, die täglich zwischen diesen beiden Städten hin und her reisten.
In der Innentasche des Jacketts befand sich ein schmaler Terminkalender. Flemming öffnete ihn, »Gefällt Ihnen Ihre Arbeit?«, fragte Gammel voller Verachtung.
Flemming sah lächelnd auf. Er liebte es, arrogante Reiche, die sich für etwas Besseres hielten, bis zur Weißglut zu reizen, doch diesmal sagte er nur: »Ich bin so was wie ein Klempner, bekomme oft massenhaft Scheiße zu sehen.« Sein Blick kehrte demonstrativ wieder zu Gammels Terminkalender zurück.
Gammels Schrift verriet Stil, genauso wie sein Anzug. Die Initialen waren sehr groß, die Schleifen ausgeprägt. Die Einträge wirkten durchwegs normal: Verabredungen zum Mittagessen, »Theater«, »Mutters Geburtstag«, »Jörgen anrufen wegen Wilder.«
»Wer ist Jörgen?«, fragte Flemming.
»Jörgen Lumpe, mein Vetter. Wir tauschen Bücher.«
»Und Wilder?«
»Thornton Wilder.«
»Und der ist.«
»Na, der amerikanische Schriftsteller. Die Brücke von San Luis Rey. Das müssen Sie doch gelesen haben.«
Der Hohn in der Stimme war nicht zu überhören. Er implizierte, dass Polizisten zu ungebildet waren, um ausländische Romane zu lesen. Flemming ging jedoch nicht darauf ein, sondern inspizierte den hinteren Teil des Terminkalenders. Wie erwartet, enthielt er eine
Weitere Kostenlose Bücher