Mitternachtsfalken: Roman
gegangen.«
»Und?«
»Jonk muss sechs Monate ins Gefängnis.«
»Sechs Monate?«
»Es tut mir Leid.«
Flemming wurde schwindelig, alles um ihn herum verschwamm vor seinen Augen. Er hatte das Gefühl umzufallen und stutzte sich mit einer Hand an der Wand ab. »Dafür, dass er das Gehirn meiner Frau zerstört und mein Leben ruiniert hat. Sechs Monate?«
»Der Richter sagte, er hatte schon sehr viel gelitten und müsse bis ans Ende seiner Tage mit dieser schweren Schuld leben.«
»Das ist doch Scheiße!«
»Da haben Sie Recht.«
»Ich dachte, der Staatsanwalt würde eine schwere Strafe fordern.«
»Hat er auch. Aber Jonks Anwalt war sehr gewieft und überzeugend. Der Junge trinkt nicht mehr, fährt nur noch mit dem Fahrrad durch die Gegend und studiert Architektur, hat er gesagt.«
»Das kann jeder behaupten.«
»Das weiß ich.«
»Ich akzeptiere das nicht! Ich weigere mich, das zu akzeptieren!«
»Aber wir können nichts mehr tun.«
»Den Teufel könnt ihr.«
»Peter, übereilen Sie jetzt nichts!«
Flemming versuchte sich zu beruhigen. »Nein, nein, natürlich nicht.«
»Sind Sie allein?«
»Ich bin auf dem Sprung ins Büro.«
»Solange jemand da ist, mit dem Sie reden können.«
»Ja, ich verstehe. Vielen Dank für Ihren Anruf, Allan.«
»Es tut mir wirklich Leid, dass wir nicht mehr tun konnten.«
»Ist doch nicht Ihre Schuld. Ein durchtriebener Anwalt und ein idiotischer Richter. Das kennt man doch.« Peter Flemming legte auf. Er hatte sich mit großer Überwindung zur Ruhe gezwungen, doch in seinem Innern gärte es. Wäre Jonk auf freiem Fuß gewesen, so hatte er ihn umbringen können – aber der Junge saß im sicheren Gefängnis, wenn auch nur für die nächsten sechs Monate. Flemming erwog, den Anwalt aufzusuchen, ihn unter einem Vorwand festzunehmen und windelweich zu prügeln, wusste aber, dass er es nicht tun würde: Der Mann hatte kein Gesetz gebrochen.
Inge saß am Tisch, wo er sie zurückgelassen hatte. Sie beobachtete ihn mit leerem Blick und wartete darauf, weiter gefüttert zu werden. Flemming fiel auf, dass gekauter Apfel aus ihrem Mund aufs Oberteil ihres Kleides getropft war. Trotz ihres Zustands achtete sie normalerweise darauf, sich beim Essen nicht zu bekleckern. Vor dem Unfall hatte sie mit allergrößter Sorgfalt auf ihr Äußeres geachtet. Als Flemming jetzt die Essenreste auf ihrem Kinn und die Flecken auf ihrem Kleid sah, war ihm plötzlich zum Weinen zumute.
Die Türklingel rettete ihn. Er riss sich zusammen und öffnete. Die Krankenschwester und Bent Conrad, der gekommen war, um ihn abzuholen, waren gleichzeitig eingetroffen. Er schlüpfte in sein Jackett und überließ es der Schwester, Inge zu säubern.
Sie fuhren mit zwei Fahrzeugen nach Vodal, zwei schwarzen Buicks. Flemming schloss nicht aus, dass die Armee ihm Schwierigkeiten machen könnte, und hatte daher General Braun gebeten, ihm einen deutschen Offizier mitzuschicken, der im Notfall seine Autorität geltend machen konnte. Major Schwarz vom persönlichen Stab General Brauns saß im vorderen der beiden Buicks.
Die Fahrt dauerte anderthalb Stunden. Schwarz rauchte eine dicke Zigarre, deren Rauch den Innenraum füllte. Flemming versuchte, nicht mehr an die empörend geringe Strafe für Finn Jonk zu denken. Für sein Vorhaben auf dem Stützpunkt musste er bei klarem Verstand sein; sein Urteilsvermögen sollte nicht von unterdrückter Wut getrübt sein. Er bemühte sich daher nach Kräften, die Flammen des Zorns, die in ihm tobten, zu besänftigen, doch das Feuer glomm hinter der Fassade einer vorgeblichen Ruhe weiter, und der Rauch stach ihm in die Augen wie der Qualm aus der Zigarre von Major Schwarz.
Vodal war eine Graspiste mit ein paar zerstreut liegenden, niedrigen Gebäuden auf der einen Seite. Da es nur eine Flugschule war, gab es keinerlei Geheimnisse zu verbergen. Entsprechend lax waren die
Sicherheitsvorkehrungen. Die Wache am Tor winkte sie durch. Auf dem Abstellplatz standen sechs Tiger Moths aufgereiht wie Vögel auf einem Zaun. Auch ein paar Segelflugzeuge und zwei Messerschmitt Me-109 waren zu sehen.
Als Flemming aus dem Wagen stieg, erblickte er Arne Olufsen, seinen alten Rivalen aus gemeinsamen Jugendzeiten auf Sande. Arne schlenderte in seiner schicken braunen Armeeuniform über den Parkplatz. Flemming spürte den sauren Geschmack alter Ressentiments in seinem Mund.
Als Kinder und Jugendliche waren Peter und Arne Freunde gewesen – bis vor zwölf Jahren der Streit ausbrach, der die
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