Mitternachtsfalken: Roman
gewartet. »Ich kenne dich jetzt, junger Mann«, sagte er böse, »und ich werde dich genau im Auge behalten. Und nun sieh zu, dass du weiterkommst!«
Harald fuhr davon und verfluchte seine Unbeherrschtheit. Wegen einer überflüssigen Bemerkung über die Juden hatte er sich den Dorfpolizisten zum Feind gemacht. Wann lerne ich endlich, nicht in jedes Fettnäpfchen zu treten, dachte er.
Einen halben Kilometer hinter den Toren von Kirstenslot bog er von der Straße in den Waldweg, der von hinten her zur Klosterruine führte. Vom Haus aus war er hier nicht zu sehen, und damit, dass am Samstagabend jemand im Garten arbeitete, war nun wirklich nicht zu rechnen.
Er stellte das Motorrad auf der Westseite der zweckentfremdeten Kirche ab, ging durch den Kreuzgang und betrat die Kirche durch eine Seitentür. Anfangs konnte er im trüben Licht des Abends, das durch die hohen Fenster fiel, nur vage, gespenstische Formen erkennen. Nachdem sich seine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, konnte er den lang gestreckten Rolls-Royce unter der Segeltuchplane, die Schachteln mit den alten Spielsachen und den Hornet-Moth-Doppeldecker mit den zurückgeklappten Flügeln ausmachen. Er hatte das Gefühl, dass seit seinem Besuch hier niemand mehr die Kirche betreten hatte.
Er öffnete das Hauptportal, fuhr sein Motorrad hinein und schloss das Tor wieder.
Als er die Dampfmaschine abstellte, gestattete er sich einen Augenblick, in dem er mit einer gewissen Zufriedenheit die Ereignisse der letzten beiden Tage Revue passieren ließ. Er hatte mit seinem improvisierten Gefährt das ganze Land durchquert sowie Arbeit und ein Dach über dem Kopf gefunden. Wenn er nicht ganz großes Pech hatte, würde sein Vater ihn hier nicht auf spüren können. Sollte es auf der anderen Seite wichtige Nachrichten aus der Familie geben, so wusste sein Bruder, wie er mit ihm in Verbindung treten konnte. Das Beste an der Geschichte war aber zweifellos, dass sich ihm hier die Chance einer Wiederbegegnung mit Karen Duchwitz bot.
Er erinnerte sich, dass sie nach dem Abendessen draußen auf der Terrasse gerne eine Zigarette rauchte. Er beschloss, es darauf ankommen zu lassen und nachzusehen. Dass Herr Duchwitz ihn dabei möglicherweise sehen könnte, war ein Risiko, doch Harald hatte das Gefühl, heute sei sein Glückstag.
In einer Ecke der Kirche, nicht weit von Werkbank und Werkzeugregal, befand sich ein Waschbecken mit einem Kaltwasserhahn. Harald hatte sich seit zwei Tagen nicht mehr gewaschen. Er zog sein Hemd aus und säuberte sich, soweit dies ohne Seife möglich war. Zum Schluss spülte er sein Hemd aus, hängte es zum Trocknen an einen Nagel, und holte sich ein frisches aus dem Rucksack.
Ein schnurgerader Fahrweg von nicht ganz einem Kilometer Länge führte vom Haupttor zum Schloss. Da er jedoch von allen Seiten einsehbar war, entschied sich Harald für einen Umweg, der ihn durch den Wald zum Schloss führte. Er kam an den Ställen vorbei, durchquerte den Küchengarten und musterte aus dem Schutz einer Zeder heraus die Rückseite des Gebäudes. An den Glastüren zur Veranda erkannte er den Salon, an den sich nach seiner Erinnerung das Esszimmer anschloss. Da kein Licht brannte, waren die Verdunkelungsvorhänge noch nicht vorgezogen. Allerdings war der flackernde Schein einer Kerze zu sehen.
Vermutlich saß die Familie gerade beim Essen. Tik war sicher im Internat – die Jansborg-Zöglinge durften nur alle zwei Wochen nach Hause fahren, und diesmal war Schulwochenende. Wenn Familie Duchwitz keine Gäste hatte, saßen vermutlich nur Karen und ihre Eltern am Abendbrottisch. Harald war neugierig und wollte einen Blick aus der Nähe riskieren.
Er überquerte den Rasen und schlich sich zum Haus. Ein BBC- Reporter verkündete, dass die Truppen der französischen Vichy-Regierung Damaskus aufgegeben und den Engländern, Commonwealth-Truppen und freien französischen Verbänden überlassen hatten. Das war eine angenehme Abwechslung: endlich mal ein britischer Erfolg. Inwieweit die gute Nachricht aus Syrien seiner Kusine Monika in Hamburg helfen konnte, war dagegen kaum ersichtlich. Harald spähte durchs Esszimmerfenster und sah, dass das Abendessen bereits vorüber war: Ein Mädchen räumte gerade den Tisch ab.
Und just in diesem Moment sagte eine Stimme hinter ihm: »Was treiben Sie denn da?«
Er zuckte zusammen und drehte sich rasch um.
Karen kam über die Terrasse auf ihn zu. Ihre blasse Haut schimmerte im Abendlicht. Sie trug ein langes Seidenkleid
Weitere Kostenlose Bücher