Mitternachtsfalken: Roman
Scherben. All seine Pläne waren durchkreuzt, und er hatte keine Zukunft mehr. Doch statt mit dem Schicksal zu hadern, freute er sich auf das Wiedersehen mit Karen Duchwitz. Er musste an ihre weiße Haut denken und an ihr feuerrotes Haar, und er erinnerte sich, wie sie durchs Zimmer gegangen war, als tanze sie. Sie wieder zu sehen schien ihm das Einzige, was jetzt noch zählte.
Dänemark war ein kleines, schmuckes Land, doch wenn man nicht schneller als 35 Stundenkilometer fahren konnte, kam es einem vor wie eine endlose Wüste. Haralds Torf verbrennendes Motorrad brauchte fast anderthalb Tage, um ihn von seinem Elternhaus auf Sande nach Kirstenslot zu bringen, das auf der anderen Seite des Landes lag.
Die Fahrt durch die eintönige gewellte Landschaft wurde durch mehrere Pannen weiter verzögert. Nach knapp fünfzig Kilometern hatte er einen Platten. Und dann riss ihm auf der langen Brücke, die die Halbinsel Jütland mit der Insel Fünen verband, die Kette. Nimbus-Motorräder hatten normalerweise eine Antriebswelle, doch ließ sich eine solche nur schwer mit einer Dampfmaschine verbinden. Harald hatte deshalb eine Kette und einen Zahnkranz aus einem alten Rasenmäher eingebaut.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Gefährt kilometerweit bis zur nächsten Werkstatt zu schieben und sich dort das gebrochene Kettenglied ersetzen zu lassen. Als er Fünen endlich überquert hatte, fuhr ihm die letzte Fähre zur Hauptinsel Seeland vor der Nase weg.
Er stellte das Motorrad ab, verzehrte Mutters letzte Gabe – drei dicke Scheiben Schinken und ein Stück Kuchen – und verbrachte eine kühle Nacht wartend am Anleger. Als er am nächsten Morgen den Boiler wieder anheizte, leckte das Sicherheitsventil, aber es gelang ihm, die undichte Stelle mit Kaugummi und Heftpflaster wieder abzudichten.
Spät am Samstagnachmittag erreichte er Kirstenslot. Obwohl er der Wiederbegegnung mit Karen geradezu entgegenfieberte, begab er sich nicht auf direktem Wege zum Schloss. Er fuhr vielmehr an der Klosterruine und am Tor zum Schlossgelände vorbei, fuhr durchs Dorf mit seiner Kirche, dem Gasthaus und dem Bahnhof und hielt erst an, als er das Gut erreichte, das er gemeinsam mit Tik besucht hatte. Er war recht zuversichtlich, dort Arbeit zu bekommen. Die Jahreszeit stimmte, und er war jung und kräftig.
Das große Bauernhaus stand in einem gut gepflegten Hot. Als er sein Motorrad abstellte, sahen ihm zwei kleine Mädchen zu – vermutlich die Enkelkinder von Bauer Nielsen, dem weißhaarigen Mann, den er damals nach dem Kirchgang hatte nach Hause fahren sehen.
Er fand Nielsen hinter dem Haus an einen Zaun gelehnt. Der Bauer trug dreckverkrustete Kordhosen zum kragenlosen Hemd und schmauchte eine Pfeife. »Guten Abend, Herr Nielsen«, sagte Harald.
»Hallo, junger Mann«, erwiderte Nielsen misstrauisch. »Was kann ich für dich tun?«
»Ich heiße Harald Olufsen und brauche Arbeit für die Ferien. Josef Duchwitz sagte mir, dass Sie Erntehelfer einstellen.«
»Dies Jahr nicht, mein Sohn.«
Harald war tief enttäuscht. Eine Absage hatte er nicht einmal in Erwägung gezogen. »Ich bin ein guter Arbeiter.«
»Daran zweifle ich ja gar nicht. Du siehst auch ganz kräftig aus. Aber ich brauche dieses Jahr keine Hilfe.«
»Und warum nicht?«
Nielsen zog eine Braue hoch. »Ich könnte jetzt eigentlich sagen, das geht dich einen feuchten Kehricht an, mein Junge. Aber ich war auch mal ein vorlauter junger Mann, und deswegen sage ich dir jetzt, dass die Zeiten alles andere als leicht sind und dass die Deutschen den größten Teil meiner Erzeugnisse aufkaufen – und den Preis dafür
selbst bestimmen. Für Erntehelfer fehlt mir einfach das Bargeld.«
»Ich arbeite für die Verpflegung«, sagte Harald verzweifelt. Nach Sande konnte er nicht zurück.
Nielsen musterte ihn von oben bis unten. »Ich hab das Gefühl, du steckst irgendwie in Schwierigkeiten. Aber für die Verpflegung alleine kann ich dich auch nicht einstellen – da kriege ich nämlich Probleme mit der Gewerkschaft.«
Die Lage war so gut wie hoffnungslos. Harald sah sich um und versuchte eine Alternative zu finden. Vielleicht konnte er in Kopenhagen irgendwo Arbeit finden – aber wo sollte er dort leben? Nicht einmal bei seinem Bruder konnte er unterkommen, denn der lebte auf einem Militärstützpunkt, auf dem Übernachtungsgäste nicht zugelassen waren.
Nielsen spürte seinen Kummer. »Tut mir Leid, mein Junge.« Er klopfte seine Pfeife an der oberen Zaunlatte aus und
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