Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Arabien beendet, der
letzte Prophet wird nur kommen, um den Weltuntergang anzukündigen. »Als ich in jener Nacht begriff, dass die Stimmen in meinem Kopf den himmlischen Heerscharen an Zahl bei weitem überlegen waren, erkannte ich, nicht ohne Erleichterung, dass ich letzten Endes doch nicht erwählt war, den Vorsitz über das Ende der Welt zu führen. Meine Stimmen, weit davon entfernt, heilig zu sein, stellten sich als so profan und so mannigfach wie Staub heraus.
Telepathie also: so etwas, worüber man immer in der Sensationspresse liest. Aber ich bitte um Geduld – warten Sie. Warten Sie nur ab. Es war Telepathie, aber auch mehr als Telepathie. Schreiben Sie mich nicht zu leicht ab.
Telepathie also: Die inneren Monologe all der so genannten wimmelnden Millionen, Massen und Klassen gleichermaßen, drängten sich in meinem Kopf, um einen Platz zu ergattern. Am Anfang, als ich noch damit zufrieden war, Zuhörer zu sein – bevor ich zu handeln begann –, gab es ein Sprachenproblem. Die Stimmen schwatzten in allen Sprachen, von Malayalam bis zu den Naga-Dialekten, von der Reinheit des Urdu um Lucknow bis zum nuschelnden Tamil des Südens. Ich verstand nur einen Bruchteil dessen, was innerhalb meiner Schädelwände gesagt wurde. Erst später, als ich begann, der Sache auf den Grund zu gehen, erfuhr ich, dass unter den Übertragungen der Oberfläche – dem Zeug, das man zuvorderst im Kopf hat und das ich ursprünglich mitbekam – die Sprache verschwand und durch allgemein verständliche Gedankenformen ersetzt wurde, die Worten bei weitem überlegen waren ... aber das war erst, nachdem ich unter dem polyglotten Toben in meinem Kopf jene anderen kostbaren Signale gehört hatte, die ganz anders als alles Übrige waren, die meisten von ihnen schwach und entfernt, weit weg wie Trommeln, deren beharrlicher Rhythmus schließlich die Fischmarktkakophonie meiner Stimmen durchbrach ... jene heimlichen nächtlichen Rufe, Gleiches rief Gleichem ... die unbewussten Leuchtfeuer der Kinder der Mitternacht, die zunächst nur ihre Existenz signalisierten, indem sie einfach übermittelten: «Ich.» Aus
dem hohen Norden: «Ich.» Und dem Süden Osten Westen: «Ich.» «Ich.» «Und ich.»
Aber ich darf mich nicht selbst überholen. Am Anfang, bevor ich zu dem vordrang, was Mehr-als-Telepathie war, begnügte ich mich mit Zuhören, und bald war ich in der Lage, mein inneres Ohr auf die Stimmen «einzustellen», die ich verstehen konnte; auch dauerte es nicht lange, bis ich in dem Getöse die Stimmen meiner Familie heraushörte und die von Mary Pereira und die von Freunden, Klassenkameraden, Lehrern. Auf der Straße lernte ich den Gedankengang vorübergehender Fremder zu identifizieren – der Dopplereffekt funktionierte auch in diesen paranormalen Bereichen, und die Stimmen wurden höher und dann wieder tiefer, während die Fremden vorbeigingen.
All das behielt ich irgendwie für mich. Durch das Summen in meinem linken (oder schlechten) Ohr täglich an den Zorn meines Vaters erinnert und darauf bedacht, mein rechtes Ohr betriebsfähig zu halten, blieben meine Lippen versiegelt. Für einen neunjährigen Jungen sind die Schwierigkeiten, Wissen zu verbergen, fast unüberwindlich, aber zum Glück waren meine Nächsten und Teuersten genauso darauf bedacht, meinen Ausbruch zu vergessen, wie ich, die Wahrheit zu verheimlichen.
«Oh, du, Saleem! Was für ein Zeug du gestern erzählt hast! Schäm dich, Junge, du solltest dir besser den Mund mit Seife auswaschen! »... An dem Morgen, nach dem ich in Ungnade gefallen war, schlug Mary Pereira, die vor Entrüstung zitterte wie eine ihrer Götterspeisen, das perfekte Mittel zu meiner Rehabilitation vor. Ich senkte reumütig den Kopf, ging ohne ein Wort ins Badezimmer und schrubbte dort unter den verblüfften Augen von Ayah und Äffchen Zähne Zunge Mundhöhle Gaumen mit einer Zahnbürste ab, die mit dem scharfen stinkigen Schaum medizinischer Seife bedeckt war. Die Nachricht von meinem dramatischen Sühneopfer, von Mary und Äffchen weitergetragen, verbreitete sich rasch im Haus, und meine Mutter umarmte mich: «Schon gut, bist ein braver
Junge, reden wir nicht mehr davon.» Ahmed Sinai nickte brummig am Frühstückstisch: «Wenigstens hat der Junge den Anstand, zuzugeben, wenn er zu weit gegangen ist.»
Als die mir durch Glas zugefügten Schnittwunden verheilten, war es, als sei auch meine Ankündigung weggewischt, und um die Zeit meines neunten Geburtstages erinnerte sich niemand
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