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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Ibrahim, Sonny-von-nebenan, Sonny mit den Zangendellen, der geduldig in den Kulissen meiner Geschichte gesessen und auf seinen Auftritt gewartet hat. In jenen Tagen war Sonny arg mitgenommen: Mehr als eine Zange hatte ihn eingedrückt. Das Messingäffchen zu lieben war (selbst im neunjährigen Sinne des Wortes) kein leichtes Kunststück.
    Wie ich schon sagte, hatte meine Schwester, als zweite und unvorhergesagt geboren, begonnen, auf jede Liebeserklärung heftig zu reagieren. Obwohl man annahm, dass sie die Sprachen der Vögel und Katzen beherrschte, erregten die zärtlichen Worte von Liebenden eine fast tierische Wut in ihr. Doch Sonny war zu einfältig, um sich abhalten zu lassen. Seit Monaten schon belästigte er sie mit Erklärungen wie: «Saleems Schwester, du bist ’ne ganz schön tolle Type!» oder: «Hör mal, willst du nicht mein Mädchen sein? Wir könnten vielleicht mit deiner Ayah ins Kino gehen ...» Und genau
die gleiche Anzahl von Monaten ließ sie ihn schon für seine Liebe leiden – erzählte seiner Mutter Lügengeschichten, stieß ihn zufälligabsichtlich in Schlammpfützen, griff ihn sogar einmal körperlich an und ließ ihn mit langen, sein ganzes Gesicht hinuntergekratzten Klauenspuren und einem gekränkten traurigen Hundeblick zurück; aber er wollte nicht lernen. Und so hatte sie schließlich ihre schrecklichste Rache geplant.
    Das Äffchen besuchte die Walsingham-Schule für Mädchen in der Nepean Sea Road, eine Schule voller hoch gewachsener, mit prachtvollen Muskeln versehener Europäerinnen, die wie Fische schwammen und wie U-Boote tauchten. Von unserem Schlafzimmerfenster aus konnten wir sehen, wie sie in ihrer Freizeit Kapriolen in dem landkartenförmigen Becken des Breach-Candy-Clubs machten, von dem wir natürlich ausgeschlossen waren ... und als ich entdeckte, dass das Messingäffchen sich diesen exklusiven Schwimmerinnen als eine Art Maskottchen angeschlossen hatte, war ich vielleicht zum ersten Mal wirklich betrübt über sie ... aber man konnte nicht reden mit ihr, sie ging ihren eigenen Weg. Vierschrötige fünfzehnjährige weiße Mädchen ließen sie im Walsingham-Schulbus neben sich sitzen. Drei solcher Weibsbilder warteten jeden Morgen mit ihr an derselben Stelle, an der Sonny Schlitzauge, Haaröl, Cyrus-der-Große und ich auf den Bus von der Cathedral-Schule warteten.
    Eines Morgens waren, aus längst vergessenem Grund, Sonny und ich die einzigen Jungen an der Haltestelle. Vielleicht machte irgendein Bazillus die Runde oder so etwas. Das Äffchen wartete, bis Mary Pereira uns unter der Obhut der vierschrötigen Schwimmerinnen allein gelassen hatte, und dann schoss mir plötzlich, als ich mich ganz ohne besonderen Grund in ihre Gedanken einschaltete, durch den Kopf, was sie in Wirklichkeit plante, und ich schrie auf: «He!» – aber zu spät. Das Äffchen kreischte: «Du hältst dich da raus!», und dann hatten sie und die drei muskulösen Schwimmerinnen sich schon auf Sonny Ibrahim gestürzt; Leute, die auf der Straße geschlafen hatten, und Bettler und vorbeiradelnde Angestellte
sahen mit unverhohlener Belustigung zu, denn sie rissen ihm jeden Fetzen vom Leib ... «Verdammt noch mal, Mann, willst du einfach dastehen und zusehen?» – Sonny schrie um Hilfe, aber ich war steif und starr, wie konnte ich Partei ergreifen, wie konnte ich zwischen meiner Schwester und meinem besten Freund entscheiden, und er, in Tränen jetzt: «Ich sag’s meinem Daddy!»; das Äffchen hingegen: «Das wird dich lehren, keine Scheiße mehr zu reden – und das wird dich lehren», keine Schuhe, kein Hemd mehr, sein Unterhemd von einer Turmspringerin entrissen. «Und das wird dich lehren, keine schmalzigen Liebesbriefe mehr zu schreiben», keine Socken mehr jetzt und reichlich Tränen, und: «Da!», kreischte das Messingäffchen; der Walsingham-Bus kam an, und die Angreiferinnen und das Messingäffchen sprangen hinein und entschwanden. «Ta-ta-bata, Loverboy», schrien sie noch, und Sonny blieb auf der Straße zurück, auf dem Bürgersteig gegenüber von Chimalker und dem Paradies des Lesers, nackt wie am Tag seiner Geburt; seine Zangendellen glitzerten wie Felsvertiefungen, denn Vaseline aus seinem Haar war hineingetröpfelt, und auch seine Augen waren nass, als er sagte: «Warum macht sie das bloß, Mann? Warum, wo ich ihr doch bloß gesagt habe, ich mag ...»
    «Keine Ahnung», sagte ich und wusste nicht, wo ich hinsehen sollte. «Sie macht so was, das ist alles.» Und ich wusste auch

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