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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Eltern uns während meiner Genesung von der schweren Gehirnerschütterung, die ich mir bei meinem Fahrradunfall zugezogen hatte, mit nach Agra zu einem Familientreffen, das sich als schlimmer herausstellte als das berüchtigte (und, wie von manchen behauptet wird, erfundene) Schwarze Loch von Kalkutta. Zwei Wochen lang waren wir gezwungen zuzuhören, wie Emerald und Zulfikar (der nun Generalmajor war und darauf bestand, General genannt zu werden) berühmte Namen fallen ließen und Andeutungen über ihr sagenhaftes Vermögen machten, das mittlerweile zum siebtgrößten in Pakistan geworden war; ihr Sohn Zafar versuchte (aber nur einmal!) an den verblassenden roten Zöpfen des Äffchens zu ziehen. Und wir waren gezwungen, in stummem Entsetzen zuzusehen, wie mein Beamtenonkel Mustapha und seine halb iranische Frau Sonia ihre Brut namenloser, geschlechtsloser Gören in die äußerste Anonymität prügelten und knüppelten; und das bittere Aroma von Alias Altjüngferlichkeit erfüllte die Luft und verdarb das Essen; und mein Vater zog sich gewöhnlich früh zurück, um seinen heimlichen nächtlichen Kampf gegen die Dschinns aufzunehmen; und Schlimmeres und Schlimmeres und Schlimmeres.
    Eines Nachts erwachte ich Schlag Mitternacht, und der Traum meines Großvaters befand sich mit einem Mal in meinem Kopf;
ich konnte deshalb nicht umhin, ihn so zu sehen, wie er sich selbst sah – als verfallenden alten Mann, in dessen Mitte man bei entsprechendem Licht einen gigantischen Schatten entdecken konnte. Als die Überzeugungen, die seiner Jugend Kraft gegeben hatten, unter dem gebündelten Einfluss des Alters und von Ehrwürdiger Mutter und infolge des Fehlens gleich gesinnter Freunde dahinschwanden, erschien in der Mitte seines Körpers wieder ein altes Loch; so wurde er zu einem verschrumpelten, ausgehöhlten alten Mann wie so viele andere, und der Gott (und andere Idole), gegen den er so lange angekämpft hatte, gewann allmählich wieder Macht über ihn ... Ehrwürdige Mutter verbrachte unterdessen die ganzen zwei Wochen damit, Mittelchen zu finden, um die verachtete Filmschauspielerfrau meines Onkels Hanif zu beleidigen. Und das war auch die Zeit, in der ich als Gespenst in einem Theaterstück für Kinder auftrat und auf dem Schrank meines Großvaters in einer alten Ledertruhe ein Laken fand, das von Motten angefressen war, dessen größtes Loch aber von Menschenhand stammte: Für diese Entdeckung wurde ich (Sie werden sich erinnern) mit brüllendem großelterlichen Zorn belohnt.
    Eine Errungenschaft gab es jedoch. Raschid der Rikschajunge schenkte mir seine Freundschaft (derselbe Mensch, der in seiner Jugend in einem Kornfeld schweigend geschrien und Nadir Khan in Aadam Aziz’ Toilette geführt hatte): Er nahm mich unter seine Fittiche und brachte mir – ohne meinen Eltern etwas zu sagen, die es so kurz nach meinem Unfall verboten hätten – das Fahrradfahren bei. Als wir abfuhren, hatte ich dieses Geheimnis zusammen mit all meinen anderen verstaut: Nur hatte ich nicht vor, dieses sehr lange geheim zu halten.
    ... Und im Zug nach Hause klammerten sich außen am Abteil Stimmen fest: «Ohe, Maharadsch! Machen Sie auf, hoher Herr!» – Stimmen von Schwarzfahrern kämpften mit jenen, denen ich zuhören wollte, den neuen Stimmen in meinem Kopf – und dann wieder der Hauptbahnhof von Bombay und die Fahrt nach Hause
an Rennbahn und Tempel vorbei, und nun verlangt Evelyn Lilith Burns, dass ich ihren Teil erst beende, ehe ich mich höheren Dingen zuwende.
    «Wieder zu Hause!», brüllt das Äffchen. «Hurra ... Back-to-Bom! »(Sie ist wieder einmal in Ungnade gefallen. In Agra hat sie die Stiefel des Generals angezündet.)
     
    Es ist amtlich bezeugt, dass das Komitee zur Neuorganisation des Staates Nehru seinen Bericht schon im Oktober 1955 vorgelegt hatte; ein Jahr später wurden seine Empfehlungen durchgeführt. Indien war von neuem geteilt worden, in vierzehn Staaten und sechs zentral verwaltete «Unionsterritorien». Die Grenzen dieser Staaten wurden jedoch nicht von Flüssen oder Gebirgen oder irgendwelchen landschaftlichen Gegebenheiten gebildet, sondern von Mauern aus Wörtern. Sprache teilte uns: Kerala gehörte jenen, die Malayalam sprachen, die einzige Sprache der Erde, deren Name ein Palindrom ist; in Karnataka sollte man Kanarese sprechen; und der verstümmelte Staat Madras – heute als Tamil Nadu bekannt – umschloss die aficionados des Tamil. Durch ein Versehen erfolgte jedoch nichts im Staate Bombay,

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