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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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nicht, dass die Zeit kommen sollte, in der sie mir etwas viel Schlimmeres antat.
    Aber das war neun Jahre später ... in der Zwischenzeit hatte Anfang 1957 der Wahlkampf begonnen: Die Jan Sangh propagierte Altersheime für betagte heilige Kühe; in Kerala versprach E. M. S. Namboodiripad, dass der Kommunismus jedem Essen und Arbeit gäbe; in Madras entfachte die Anna-DMK-Partei von C. N. Annadurai die Flammen des Regionalismus; die Kongresspartei schlug mit Reformen wie dem Hindu-Erbfolgegesetz zurück, das Hindu-Frauen gleiche Erbrechte zugestand – kurzum, jeder war damit beschäftigt, sich für seine eigene Sache einzusetzen; ich jedoch fand
gegenüber Evie Burns keine Worte und wandte mich an Sonny Ibrahim mit der Bitte, sich für mich einzusetzen.
    In Indien sind wir schon immer für Europäer anfällig gewesen ... seit Evie bei uns war, waren nur ein paar Wochen vergangen, und schon trieb es mich unwiderstehlich, auf groteske Weise europäische Literatur nachzuäffen. (Wir hatten in der Schule Cyrano in einer vereinfachten Fassung durchgenommen; ich hatte außerdem den Comic Illustrierte Klassik gelesen.) Vielleicht wäre es gerecht zu sagen, dass Europa sich in Indien als Farce wiederholt ... Evie war Amerikanerin. Das Gleiche.
    «Aber he, Mann, das ist nicht fair, Mann. Warum tust du es nicht selber?»
    «Hör zu, Sonny», bat ich, «du bist doch mein Freund, oder?»
    «Jaaa, aber du hast mir noch nicht mal geholfen ...»
    «Schließlich ist sie meine Schwester, Sonny, wie konnte ich?»
    «Nein; also musst du deinen Dreck allein ...»
    «He, Sonny, Mann, denk doch mal nach. Denk doch nur mal nach. Diese Mädchen müssen vorsichtig behandelt werden, Mann. Du hast doch gesehen, was das Äffchen für einen Rappel kriegt! Du hast die Erfahrung hinter dir, Yaar, du hast es durchgemacht. Du weißt, wie sachte du das nächste Mal vorgehen musst. Was weiß ich denn schon, Mann? Vielleicht mag sie mich überhaupt nicht. Willst du denn, dass auch mir die Kleider vom Leib gerissen werden? Wär’ dir dann wohler?»
    Und der unschuldige, gutmütige Sonny: «... Nein, eigentlich nicht ...»
    «Na also! Du gehst hin. Singst ein wenig mein Lob. Sag ihr, sie soll sich nicht an meiner Nase stören. Auf den Charakter kommt’s an. Kannst du das machen?»
    «... Tjaaa ... ich ... gut, aber du sprichst auch mit deiner Schwester, okay?»
    «Ich red’ mit ihr, Sonny. Was kann ich schon versprechen? Du weißt ja, wie sie ist. Aber ich rede mit ihr, ganz bestimmt.»
    Man kann seine Strategien so sorgfältig ausdenken, wie man will, Frauen zerschlagen sie mit einem Streich. Für jeden siegreichen Wahlkampf gibt es doppelt so viele, die fehlschlagen ... von der Veranda von Buckingham Villa aus spionierte ich durch die Stäbe der Bambusjalousie hinter Sonny Ibrahim her, als er meinen auserwählten Wahlbezirk sondierte ... und hörte die Stimme der Wählerschaft, den ansteigenden nasalen Klang von Evie Burns, der die Luft mit Verachtung zerteilte: «Wer? Der? Warum sagste dem nicht, er soll sich erst mal die Nase putzen? Der Schnüffler? Der kann ja noch nicht mal Rad fahren!» Das stimmte.
    Und Schlimmeres stand bevor, denn sah ich nun etwa nicht (obwohl eine Bambusjalousie die Szene in schmale Schlitze aufteilte), wie Evies Gesichtsausdruck allmählich weicher wurde und sich änderte? Streckte Evies Hand (durch die Jalousie längs unterteilt) sich nicht nach meinem Wahlhelfer aus? Und berührten nicht Evies Finger (die Nägel bis zum Fleisch abgekaut) Sonnys Zangendellen und tauchten dabei in herabgetröpfelte Vaseline? Und sagte Evie oder sagte sie etwa nicht: «Wenn man dich dagegen sieht, du bist richtig süß !» Lassen Sie mich traurig bestätigen, dass ich tat, sie tat, sie taten, sie tat.
    Saleem Sinai liebt Evie Burns, Evie liebt Sonny Ibrahim, Sonny ist ganz verrückt nach dem Messingäffchen; aber was sagt das Affchen?«Mach mich nicht krank, Allah», sagte meine Schwester, als ich – ziemlich nobel, wenn man in Betracht zieht, wie er mich im Stich gelassen hatte – versuchte, für Sonny einzutreten. Das Votum der Wähler lautete für uns beide: Daumen nach unten.
     
    Ich gab noch nicht auf. Die Sirenenverlockungen Evie Burns’ – die sich nie etwas aus mir machte, wie ich zugeben muss – führten unweigerlich zu meinem Sturz. (Aber ich nehme ihr nichts übel, denn mein Sturz führte zu einem Aufstieg.)
    In der Abgeschiedenheit meines Uhrturms nahm ich Urlaub von meinen Streifzügen quer durch den

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