Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
und in der Stadt Mumbadevis wurden die Sprachmärsche immer länger und lauter und verwandelten sich schließlich in politische Parteien, die Samyukta Maharashtra Samiti (Vereinigte Maharashtra-Partei), die sich für die Marathi-Sprache einsetzte und die Schaffung des Dekkanstaates Maharashtra forderte, und die Maha Gujarat Parishad (Große Gujarat-Partei), die unter dem Banner der Gujarati-Sprache marschierte und von einem Staat nördlich der Stadt Bombay träumte, der sich bis zur Halbinsel Kathiawar und dem Ran von Kutch erstrecken sollte ... ich erwärmte mich für diese kalte Geschichte, diese alten toten Kämpfe zwischen der dürren Steifheit des Marathi, das in der trockenen Hitze des Dekkan entstand, und der sumpfigen, kathiawarischen Weichheit des Gujarati, um zu erklären, warum an dem Tag im Februar 1957, der unmittelbar auf unsere Rückkehr aus Agra
folgte, Methwold’s Estate von der Stadt durch einen Strom singender Menschheit abgeschnitten war, der die Warden Road stärker überflutete als die Wasser des Monsunregens, ein Umzug, der so lang war, dass er zwei Tage brauchte, um vorüberzuziehen; und es hieß, dass die Statue Sivajis zum Leben erwacht sei, um steinern an seiner Spitze zu reiten. Die Demonstranten trugen schwarze Flaggen; viele von ihnen waren Geschäftsinhaber auf Hartal; viele von ihnen waren streikende Textilarbeiter aus Mazagaon und Matunga; aber wir auf unserem Hügelchen wussten nichts über ihre Arbeit; der endlose Ameisenzug aus Sprache in der Warden Road zog uns Kinder so magnetisch an wie die Glühbirne die Motten. Die Demonstration war so ungeheuer groß, die aufgerührte Leidenschaft so gewaltig, dass alle vorhergegangenen Märsche aus dem Gedächtnis getilgt wurden, als hätten sie nie stattgefunden – und keiner von uns durfte den Hügel hinuntergehen, um auch nur einen winzigen Blick zu erhaschen. Wer war also am kühnsten von uns allen? Wer drängte uns, wenigstens den halben Weg hinunterzukriechen, bis zu der Stelle, wo die Straße einen Bogen machte und in einer Haarnadelkurve steil zur Warden Road hinunterführte? Wer sagte: «Wovor soll man denn Angst haben? Wir gehen doch bloß ein Stück runter, um einen Blick zu riskieren»? ... Großäugige, ungehorsame Inder folgten ihrem sommersprossigen amerikanischen Häuptling. («Sie haben Dr. Narlikar umgebracht – Demonstranten sind’s gewesen», warnte uns Haaröl mit zittriger Stimme. Evie spuckte ihm auf die Schuhe.)
Ich aber, Saleem Sinai, hatte Wichtigeres zu tun. «Evie», sagte ich mit ruhiger Lässigkeit, «willst du mal sehen, wie ich Rad fahre?» Keine Antwort. Evie war in das Schauspiel versunken ... und war das ein Abdruck ihres Fingers in Sonny Ibrahims linker Zangendelle, in Vaseline eingebettet, für aller Augen sichtbar? Ein zweites Mal und mit etwas mehr Nachdruck sagte ich: «Ich kann’s jetzt, Evie. Ich mach’ es auf dem Fahrrad vom Äffchen. Willst du mal sehen?» Und nun Evie, grausam: «Ich kuck’ hier zu. Das ist Klasse. Warum
sollte ich dir zukucken wollen?» Und ich, ein wenig weinerlich nun: «Aber ich hab’s gelernt, Evie, du musst ...» Geschrei von der Warden Road herauf ertränkt meine Worte. Ihr Rücken ist mir zugewandt und Sonnys Rücken, die Rücken von Schlitzauge und Haaröl, die intellektuelle Rückseite von Cyrus-dem-Großen ... meine Schwester, die den Abdruck von Evies Finger auch gesehen hat und aussieht, als gefiele ihr das nicht, stachelt mich an: «Mach schon. Nun mach schon, zeig’s ihr! Was glaubt die eigentlich, wer sie ist?» Und hinauf auf ihr Fahrrad ... «Ich kann’s Evie, sieh her!» In Kreisen fahre ich immer rund um die kleine Traube von Kindern. «Siehst du? Siehst du’s?» Ein Moment des Glücks, und dann Evie, ernüchternd ungeduldig soll-mir-doch-egal-sein: «Willste wohl machen, dass du mir aus dem Weg gehst, verflixt noch mal! Ich will das sehen! »Ein Finger, mit abgekautem Nagel und allem, sticht hinunter in Richtung des Sprachmarsches; ich bin zugunsten der Parade der Samyukta Maharashtra Samiti entlassen! Und obwohl das Äffchen treu ergeben sagt: «Das ist nicht fair! Er kann es wirklich gut !», und obwohl die Sache selbst Spaß macht, dreht etwas in mir durch; und ich fahre um Evie herum, schnellerschnellerschneller, heule Rotz und Wasser: «Was ist bloß los mit dir? Was soll ich denn tun, damit ...»Und dann gewinnt etwas anderes die Oberhand, weil ich merke, dass ich sie gar nicht zu fragen brauche, ich kann einfach in diesen
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