Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
sommersprossigen Kopf mit dem metallenen Mund hinein und alles herausfinden, diesmal kann ich wirklich erfahren, was darin vorgeht ... und schon bin ich, immer noch Rad fahrend, drinnen, aber zuvorderst in ihrem Kopf sind die Marathi-Marschierer, in den Winkeln ihrer Gedanken stecken amerikanische Schlager, aber nichts, was mich interessiert; und nun, erst jetzt, jetzt zum ersten Mal, getrieben von den Tränen unerwiderter Liebe, beginne ich einzudringen ... Ich merke, wie ich stoße, tauche, mich durch ihre Schutzwälle hindurchkämpfe ... bis zu dem geheimen Ort, wo sich ein Bild ihrer Mutter befindet, die einen rosa Kittel trägt und einen winzigen Fisch am Schwanz hält, und ich stöbere tiefertiefertiefer,
wo ist es, was treibt sie an, als sie plötzlich zusammenzuckt und herumwirbelt und mich anstarrt, während ich radele, rundundrundundrundundrundund ...
    «Mach, dass du rauskommst!», schreit Evie Burns. Sie hält sich die Hände an die Stirn. Ich radle, mit nassen Augen, tauche eineinein: bis dahin, wo Evie am Eingang eines Schlafzimmers in einem Holzhaus steht und ein scharfes und glänzendes Etwas hält, von dem etwas Rotes heruntertröpfelt, im Eingang zu einem, mein Gott, und auf dem Bett eine Frau, die, in einem rosa, mein Gott, und Evie mit dem, und Rot befleckt das Rosa, und ein Mann kommt, mein Gott, und nein nein nein nein nein ...
    «RAUS RAUS RAUS!» Verdutzte Kinder sehen zu, wie Evie brüllt, der Sprachmarsch ist vergessen, doch plötzlich fällt er ihr wieder ein, denn Evie hat das Fahrrad des Äffchens hinten gepackt. WAS MACHST DU DA, EVIE, als sie es wegstößt, DA, RAUS MIT DIR, DU ARSCH, FAHR ZUR HÖLLE! – Sie hat mich, so fest sie kann, angestoßen, und ich verliere die Kontrolle und sause den Abhang hinunter um die Haarnadelkurve, hinunterhinunter, MEIN GOTT, DER MARSCH, an der Tip-Top-Reinigung vorbei, an Noor Ville und Laxmi Vilas vorbei, AAAAA, und hinunter ins Maul des Marsches, Köpfe Füße Körper. Die Wellen des Marsches teilen sich, als ich Zeter und Mordio schreiend ankomme und auf einem durchgegangenen Damenrad in die Geschichte krache.
    Hände packen den Lenker, als ich in der aufgewühlten Menschenmasse zum Stillstand komme. Ein Lächeln zwischen guten Zähnen umgibt mich. Es ist kein freundliches Lächeln. «Seht her, ein kleiner Laad Sahib kommt von dem großen reichen Hügel herunter, um sich uns anzuschließen!» Das alles auf Marathi, das ich kaum verstehe – es ist mein schlechtestes Fach in der Schule –, und das Lächeln fragt: «Du willst dich der SMS anschließen, kleines Prinzchen?» Und ich, der ich gerade ahne, was da gesagt wird, aber so benommen bin, dass ich die Wahrheit sage, schüttele den Kopf. Nein. Und das Lächeln: «Aha, der junge Nawab mag unsere Sprache
nicht! Was mag er denn dann?» Und noch ein Lächeln: «Vielleicht Gujarati? Du sprichst Gujarati, Mylord?» Aber mein Gujarati war so schlecht wie mein Marathi; in der sumpfigen Sprache von Kathiawar kannte ich nur einen Spruch; und das Lächeln drängte mich, und Finger stießen mich: «Sprich, kleiner Herr! Sag etwas auf Gujarati!» – also sagte ich ihnen, was ich kannte, einen Vers, den ich in der Schule von Glandy Keith Colaco gelernt hatte. Er benutzte ihn, wenn er Gujarati-Jungen tyrannisierte, einen Vers, mit dem man sich über den Rhythmus der Sprache lustig machte:
    Soo ché? Saru ché!
Danda lé ké maru ché!
    Wie geht’s dir? – Mir geht’s gut! – Ich nehm’ den Stock und schlag dich tot! Ein Unsinn, ein Nichts, neun bedeutungsleere Wörter ... aber als ich sie aufsagte, begann das Lächeln zu lachen, und dann begannen die Stimmen in meiner Nähe und dann weiter und weiter weg meinen Singsang aufzunehmen: WIE GEHT’S DIR? MIR GEHT’S GUT!, und sie verloren das Interesse an mir. «Geh, geh weg mit deinem Fahrrad, Herrchen», höhnten sie. ICH NEHM’ DEN STOCK UND SCHLAG DICH TOT, ich floh das Hügelchen hinauf, während mein Singsang vorwärts und rückwärts eilte, nach vorn zur Spitze und zurück zum Schluss des zweitagelangen Umzugs, und dabei zum Kampflied wurde.
    An jenem Nachmittag stieß die Spitze des Zugs der Samyukta Maharashtra Samiti an Kemp’s Corner mit der Spitze einer Demonstration der Maha Gujarat Parishad zusammen; SMS-Stimmen sangen: «Soo ché? Saru ché!», und MGP-Kehlen öffneten sich voller Wut; unter den Plakaten mit dem Air-India-Radscha und dem Kolynos-Kind fielen die beiden Parteien mit nicht geringer Hingabe übereinander her, und,

Weitere Kostenlose Bücher