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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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und mir nie etwas Böses wollte.
    «Diese Liebe, Herr», jammert Padma, «sie treibt eine Frau direkt in den Wahnsinn.»
    Ich wiederhole: Ich mache Padma keine Vorhaltungen. Am Fuße der Westgats suchte sie nach den Kräutern der Männlichkeit: nach Mucuna pruritus und der Wurzel von Feronia elephantum; wer weiß, was sie fand? Wer weiß, was, mit Milch gepanscht und meinem Essen untergemischt, meine Innereien zu Butter schlug, so wie Indra, alle Anhänger der hinduistischen Kosmologie wissen das, die
Materie erschuf, indem er die Ursuppe in seinem großen Butterfass rührte? Na ja, Schwamm drüber. Der Versuch war edel, aber bei mir lässt sich nichts mehr wiederherstellen – Die Witwe hat mich erledigt. Noch nicht einmal die echte Mucuna hätte meine Unfähigkeit beheben können; Feronia hätte in mir nie die «lebensvolle Kraft der wilden Tiere» erzeugt.
    Immerhin bin ich wieder einmal an meinem Tisch; wieder einmal sitzt Padma zu meinen Füßen und treibt mich voran. Ich habe einmal mehr mein Gleichgewicht wiedergefunden – die Basis meines gleichschenkligen Dreiecks ist gesichert. Ich schwebe über der Spitze, über Gegenwart und Vergangenheit erhaben, und spüre, wie es mir wieder leichter aus der Feder fließt.
    Eine Art Zauber ist also ausgeübt worden, und Padmas Exkursion auf der Suche nach Liebestränken hat mich für kurze Zeit mit dieser Welt uralter Gelehrsamkeit und Zauberkunde in Berührung gebracht, die von den meisten von uns heutzutage so verachtet wird; doch trotz Magenkrämpfen und Fieber und Schaum vor dem Mund bin ich froh, dass sie über meine letzten Tage hereingebrochen ist, denn darüber nachsinnen heißt ein wenig von dem verlorenen Sinn für Proportionen wiedergewinnen.
    Denken Sie nur: In meiner Version trat die Geschichte am 15. August 1947 in eine neue Phase ein – in einer anderen Version aber ist dieses unausweichliche Datum nicht mehr als ein flüchtiger Augenblick im Zeitalter der Dunkelheit, Kali-Yuga, in dem die Kuh der Sittlichkeit dazu verurteilt war, auf einem einzigen wackligen Bein zu stehen! Kali-Yuga – der Wurf, mit dem man in unserem nationalen Würfelspiel verliert; das Schlimmste von allem; das Zeitalter, in dem Besitz einem Menschen seinen Rang verleiht, in dem Reichtum mit Tugend gleichgesetzt wird, in dem Leidenschaft das einzige Band zwischen Männern und Frauen wird, in dem Falschheit Erfolg bringt (ist es ein Wunder, dass in einer solchen Zeit auch ich nicht mehr wusste, was gut und was böse war?), begann am Freitag, dem 18. Februar 3102 v. Chr., und wird bloße 432 000 Jahre
dauern! Obwohl ich mir bereits reichlich zwergenhaft vorkomme, sollte ich dennoch hinzufügen, dass das Zeitalter der Dunkelheit nur die vierte Phase des gegenwärtigen Maha-Yuga-Zyklus ist, der insgesamt zehnmal so lang ist; und wenn Sie bedenken, dass tausend Maha-Yugas erst einen einzigen Tag Brahmas ergeben, werden Sie verstehen, was ich mit Proportion meine.
    Ein wenig Demut an dieser Stelle (wo ich mich zitternd anschicke, die Mitternachtskinder vorzustellen) ist, meine ich, nicht unangebracht. Padma rutscht verlegen hin und her. «Was redest du da?», fragt sie und errötet ein wenig. «Das ist Brahmanengerede, was hat das mit mir zu tun?»
    ... Geboren und erzogen in der Tradition der Moslems, merke ich plötzlich, dass ich von einem älteren Wissen überwältigt bin, während hier neben mir meine Padma ist, deren Rückkehr ich so ernsthaft ersehnt hatte ... meine Padma! Die Lotosgöttin, die Dungbesitzende, die Honiggleiche und die Aus-Gold-Gemachte, deren Söhne Feuchtigkeit und Schlamm sind ...
    «Du musst immer noch Fieber haben», protestiert sie kichernd. «Wieso aus Gold gemacht, Herr? Und du weißt, dass ich keine Kin...»
    ... Padma, die zusammen mit den Yaksa-Geistern, welche den heiligen Schatz der Erde darstellen, und den heiligen Flüssen Ganges Yamuna Sarasvati und den Baumgöttinnen eine der Wächterinnen des Lebens ist, die die Sterblichen bezaubern und trösten, während sie durch das Traumgespinst der Maja schreiten ... Padma, der Lotoskelch, der aus Wischnus Nabel erwuchs und aus dem Brahma selbst geboren wurde; Padma die Quelle, die Mutter der Zeit! ...
    «He», jetzt klingt sie besorgt, «lass mich deine Stirn fühlen!»
    ... Und wo in diesem Plan der Dinge bin ich? Bin ich (durch ihre Rückkehr bezaubert und getröstet) bloß sterblich – oder etwas mehr? So etwas wie – ja, warum nicht – mit meinem Mammutrüssel, meiner Ganeschnase – so

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