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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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etwas wie der Elefant vielleicht. Der wie Sin der Mond über die Wasser herrscht und das Geschenk des
Regens bringt ... dessen Mutter Ira war, die königliche Gemahlin von Kashyap, dem alten Schildkrötenmann, Herr und Urahn aller Geschöpfe auf Erden ... der Elefant, der auch der Regenbogen ist und der Blitz und dessen Symbolwert, muss hinzugefügt werden, hochproblematisch und unklar ist.
    Nun gut: Schwer fassbar wie Regenbogen, unberechenbar wie Blitze, wortreich wie Ganesch, scheint es, dass ich letzten Endes doch meinen Platz in der altehrwürdigen Lehre habe.
    «Mein Gott», Padma stürzt los, um ein Handtuch in kaltes Wasser zu tauchen, «deine Stirn glüht wie Feuer! Du legst dich jetzt besser hin; es ist noch zu früh, um mit diesem ganzen Geschreibsel weiterzumachen! Die Krankheit redet, nicht du.»
    Aber ich habe schon eine Woche verloren; deshalb muss ich, Fieber hin, Fieber her, voranpreschen; denn nachdem ich im Augenblick den Bestand an alten Götter- und Heldensagen erschöpft habe, komme ich zum phantastischen Kern meiner eigenen Geschichte und muss klar und unverhüllt über die Mitternachtskinder schreiben.
     
    Begreifen Sie, was ich sage: In der ersten Stunde des 15. August 1947 – zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens – wurden innerhalb der Grenzen dieses neugeborenen unabhängigen Staates Indien nicht weniger als tausendundein Kind geboren. Das ist an sich keine ungewöhnliche Tatsache (obwohl diese Zahl merkwürdig literarische Anklänge hat) – zu jener Zeit übertraf die Geburtenrate in unserem Teil der Welt die Sterberate um ungefähr sechshundertsiebenundachtzig in der Stunde. Was das Ereignis bemerkenswert (bemerkenswert! da haben Sie ein leidenschaftsloses Wort, bitte sehr!) machte, war die Beschaffenheit dieser Kinder, von denen jedes dank einer Laune der Biologie oder vielleicht aufgrund einer außernatürlichen Macht des Augenblicks oder möglicherweise auch durch reinen Zufall (obwohl Gleichzeitigkeit in solchem Ausmaß selbst C. G. Jung verblüffen würde) mit Zügen, Begabungen
oder Fähigkeiten ausgestattet war, die man nur als übernatürlich beschreiben kann. Es war, als ob – wenn Sie mir einen Augenblick der Extravaganz in dem ansonsten, das verspreche ich, nüchternsten Bericht gestatten, den ich zustande bringen kann –, als ob die Geschichte, als sie diesen höchst bedeutungs- und verheißungsvollen Zeitpunkt erreichte, beschlossen habe, in diesem Augenblick den Samen einer Zukunft auszusäen, die sich wahrhaft von allem unterscheiden würde, was die Welt bisher gesehen hatte.
    Falls ein ähnliches Wunder auf der anderen Seite der Grenze, in dem kurz zuvor abgetrennten Pakistan, bewirkt wurde, so weiß ich nichts davon; meine Wahrnehmungen wurden, solange sie anhielten, begrenzt vom Arabischen Meer, dem Golf von Bengalen, dem Himalajamassiv, aber auch von den künstlichen Grenzen, die durch den Pandschab und Bengalen verliefen.
    Es blieb nicht aus, dass es einer Reihe dieser Kinder nicht gelang zu überleben. Unterernährung, Krankheit und die Missgeschicke des Alltags hatten nicht weniger als vierhundertzwanzig von ihnen zur Strecke gebracht, als ich mir ihrer Existenz bewusst wurde; man kann allerdings annehmen, dass auch diese Todesfälle ihren Sinn hatten, denn 420 ist seit unvordenklichen Zeiten die Zahl, die mit Betrug, Täuschung und Gaunerei in Verbindung gebracht wird. Kann es also sein, dass die fehlenden Kinder eliminiert wurden, weil sie sich als unzulänglich herausstellten und nicht die wahren Kinder dieser Mitternachtsstunde waren? Nun, zum Ersten ist dies ein weiterer Ausflug in die Phantasie, zum Zweiten hängt es von einer Lebensanschauung ab, die sowohl über die Maßen theologisch als auch barbarisch grausam ist. Es ist überdies eine nicht zu beantwortende Frage, eine weitere Untersuchung lohnt sich daher nicht.
    Im Jahre 1957 näherten sich die überlebenden fünfhunderteinundachtzig Kinder alle ihrem zehnten Geburtstag, wobei sie zum größten Teil keinerlei Ahnung von der Existenz der anderen hatten  – obwohl es gewiss Ausnahmen gab. In der Stadt Baud am
Fluss Mahanadi in Orissa gab es ein Paar Zwillingsschwestern, das in der Gegend schon legendär geworden war. Denn trotz ihrer beeindruckenden Reizlosigkeit besaßen sie beide die Fähigkeit, jeden Mann, der sie sah, dazu zu bringen, sich hoffnungslos und selbstmörderisch in sie zu verlieben, sodass ihre verwirrten Eltern ständig von einem Strom von Männern belästigt wurden, die

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