Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

vielversprechendere Wirklichkeit der fünfhunderteinundachtzig. (Zweihundertsechsundsechzig von uns waren Jungen; wir wurden von unseren weiblichen Gegenstücken an Zahl übertroffen – dreihundertfünfzehn einschließlich Parvatis, Parvatis-der-Hexe.)
    Mitternachtskinder! ... Ein Junge aus Kerala, der die Fähigkeit besaß, in Spiegel einzutreten und aus jeder spiegelnden Oberfläche im Land wieder aufzutauchen – aus Seen und (mit größeren Schwierigkeiten) aus den polierten Karosserien von Automobilen ... und ein Mädchen aus Goa mit der Gabe, Fisch zu vermehren ... und Kinder, die sich verwandeln konnten: ein Werwolf aus dem Nilgirigebirge und von der großen Wasserscheide der Windjakette ein Junge, der sich nach Belieben größer oder kleiner machen konnte und (mutwillig) bereits Anlass zu wilder Panik und Gerüchten über die Rückkehr von Riesen gewesen war ... aus Kaschmir kam ein blauäugiges Kind, über dessen ursprüngliches Geschlecht ich mir immer im Zweifel war, da er (oder sie) es durch Eintauchen in Wasser ändern konnte, wie er (oder sie) wollte. Manche von uns nannten dieses Kind Narada, andere Markandaya, je nachdem, welche alte Legende wir gehört hatten, die von einer Geschlechtsumwandlung handelte ... in der Nähe von Jalna im Herzen des ausgedörrten Dekkan fand ich einen Jungen, der mit einer Wünschelrute nach Wasser suchte, und in Budge-Budge am Rande Kalkuttas ein scharfzüngiges Mädchen, dessen Worte allein schon die
Macht hatten, jemandem körperliche Wunden zuzufügen; nachdem ein paar Erwachsene gemerkt hatten, dass sie nach einer von ihr leicht hingeworfenen spitzen Bemerkung stark zu bluten begannen, beschloss man, sie in einen Bambuskäfig zu sperren und darin den Ganges hinunter bis zu den Sundarbans (dem angestammten Heim von Ungeheuern und Gespenstern) treiben zu lassen; doch niemand wagte es, sich ihr zu nähern, und sie bewegte sich, umgeben von einem Vakuum aus Furcht, durch die Stadt; niemand hatte den Mut, ihr Nahrung zu verweigern. Es gab einen Jungen, der Metall essen konnte, und ein Mädchen, das einen so grünen Daumen hatte, dass es sogar in der Wüste Thar preiswürdige Auberginen ziehen konnte, und mehr und mehr und mehr ... von ihrer Anzahl und der exotischen Vielzahl ihrer Gaben überwältigt, schenkte ich in jenen Anfangstagen ihrem gewöhnlichen Ich wenig Beachtung; es war aber unvermeidlich, dass unsere Probleme, wenn welche auftraten, die alltäglichen menschlichen Probleme waren, die sich aus Charakter-und-Umgebung ergeben; bei unseren Streitereien waren wir einfach nur ein Haufen Kinder.
    Eine bemerkenswerte Tatsache: Je näher der Zeitpunkt unserer Geburt an Mitternacht lag, desto größer waren unsere Gaben. Diejenigen Kinder, die in den letzten Sekunden der Stunde nach Mitternacht geboren wurden, waren (offen gestanden) wenig mehr als Zirkusmonster: bärtige Mädchen, ein Junge mit den voll funktionierenden Kiemen einer Mahaseer-Forelle, siamesische Zwillinge mit zwei Körpern, die an einem einzigen Kopf und Hals baumelten – der Kopf konnte mit zwei Stimmen, einer männlichen und einer weiblichen, sprechen und jede Sprache und jeden Dialekt, der auf dem Subkontinent gesprochen wurde; aber obwohl sie so wundersam waren, handelte es sich hier um die Unglücklichen, die lebendigen Opfer jener überirdischen Stunde. Jene Kinder, die eine halbe Stunde nach Mitternacht geboren waren, besaßen interessantere und nützlichere Fähigkeiten – im Wald von Gir lebte ein Hexenmädchen, in dessen Macht es stand, durch Handauflegen zu heilen,
und in Schillong gab es den Sohn eines reichen Teeplantagenbesitzers, der damit gesegnet (oder vielleicht dazu verdammt) war, nichts vergessen zu können, was er je gehört oder gesehen hatte. Doch die Kinder, die in der allerersten Minute geboren waren – für diese Kinder hatte die Stunde die höchsten Begabungen aufgespart, von denen die Menschheit je träumte. Wenn du zufällig ein Geburtsregister besäßest, Padma, in dem die Uhrzeit bis auf die Sekunde genau festgehalten wäre, würdest auch du wissen, welcher Spross einer berühmten Familie aus Lucknow (einundzwanzig Sekunden nach Mitternacht geboren) schon im Alter von zehn Jahren die vergessenen Künste der Alchimie vollkommen beherrschte, mit denen er das Vermögen seines alten, aber verschwenderischen Hauses wieder neu schuf, und welche Wäscherstochter aus Madras (siebzehn Sekunden nach Mitternacht) höher fliegen konnte als jeder Vogel, einfach indem