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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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einem oder beiden der verwirrenden Kinder die Ehe antrugen; alte Männer, die die Weisheit ihrer Bärte vergessen hatten, und Jugendliche, die den Schauspielerinnen im Wanderkino, das einmal im Monat nach Baud kam, zu Füßen hätten liegen sollen; und noch eine andere, beunruhigendere Prozession beraubter Familien gab es, die die Zwillinge verfluchten, weil sie ihre Söhne so verhext hätten, dass sie gewalttätig gegen sich selbst geworden seien, sich tödliche Verstümmelungen beigebracht und gegeißelt und (in einem Fall) sogar selbst geopfert hätten. Abgesehen von so raren Beispielen, waren die Kinder der Mitternacht jedoch aufgewachsen, ohne etwas von ihren wahren Geschwistern zu ahnen, ihren Mitauserwählten, die sich über die Länge und Breite von Indiens ungeschliffenem und schlecht proportioniertem Diamanten verteilten.
    Und dann, als Folge eines bei einem Fahrradunfall erlittenen Schocks, wurde ich, Saleem Sinai, ihrer aller gewahr.
    Jedwedem, dessen persönliche Geistesverfassung nicht flexibel genug ist, als dass er diese Tatsachen akzeptieren könnte, muss ich sagen: So war es, der Wahrheit kann man sich nicht entziehen. Ich werde einfach die Last des Zweifels, der diese Ungläubigen heimsucht, auf meine Schultern nehmen müssen. Aber kein des Lesens und Schreibens kundiger Mensch kann in diesem unserem Indien ganz unempfänglich für die Art Information sein, die ich gerade offenbaren will – jeder Leser unserer Landespresse muss unweigerlich auf eine Reihe – zugegebenermaßen unbedeutenderer – Wunderkinder und bunt gemischter Missgeburten gestoßen sein. Erst letzte Woche war von diesem bengalischen Jungen die Rede, der sich als Wiederverkörperung von Rabindranath Tagore ausgab und
zur Verblüffung seiner Eltern aus dem Stegreif Verse von bemerkenswerter Qualität darzubieten begann; und ich selbst kann mich an Kinder mit zwei Köpfen (manchmal mit einem menschlichen und einem tierischen) und anderen seltsamen Zügen, so wie zum Beispiel Stierhörner, erinnern. Ich sollte sofort sagen, dass nicht alle Gaben, die den Kindern zuteil wurden, erstrebenswert oder auch nur den Kindern selbst erwünscht waren, und in einigen Fällen hatten die Kinder überlebt, waren aber der Eigenschaften, die die Mitternacht ihnen gegeben hatte, beraubt worden. Lassen Sie mich beispielsweise (als Gegenstück zu der Geschichte von den Zwillingen in Baud) ein Bettlermädchen namens Sundari erwähnen, das in einer Straße hinter dem Hauptpostamt geboren wurde, nicht weit von dem Dach entfernt, auf dem Amina Sinai Ramram Seth gelauscht hatte, und dessen Schönheit so außerordentlich war, dass sie es sofort nach ihrer Geburt zustande brachte, ihre Mutter und die Nachbarsfrauen, die ihr bei der Niederkunft geholfen hatten, blind zu machen. Sein Vater, der ins Zimmer stürzte, als er die Schreie der Frauen hörte, war noch gerade rechtzeitig von ihnen gewarnt worden, aber dieser eine flüchtige Blick auf seine Tochter verminderte sein Sehvermögen so sehr, dass er danach nicht mehr in der Lage war, zwischen ausländischen Touristen und Indern zu unterscheiden – ein Handikap, das seine Verdienstmöglichkeit als Bettler stark beeinträchtigte. Danach musste Sundari eine Zeit lang immer einen Lumpen über dem Gesicht tragen, bis eine alte und skrupellose Großtante sie auf den knochigen Arm nahm und ihr mit einem Küchenmesser neunmal das Gesicht zerschnitt. Zu der Zeit, als ich ihrer gewahr wurde, hatte Sundari ein anständiges Einkommen, denn niemand, der sie erblickte, konnte umhin, ein Mädchen zu bemitleiden, das früher einmal offenkundig zu schön zum Ansehen gewesen und jetzt so grausam entstellt war; sie erhielt mehr Almosen als jedes andere Mitglied ihrer Familie.
    Weil keins der Kinder vermutete, dass der Zeitpunkt ihrer Geburt etwas mit dem zu tun hatte, was sie waren, brauchte ich eine Weile,
um das herauszufinden. Nach dem Fahrradunfall (und besonders, nachdem die Teilnehmer an einem Sprachmarsch mich einmal von Evie Burns geheilt hatten) begnügte ich mich zuerst damit, nacheinander die Geheimnisse der sagenhaften Wesen zu entdecken, die plötzlich in meinem geistigen Gesichtsfeld aufgetaucht waren. Ich sammelte sie voller Gier, so wie manche Jungen Insekten sammeln und andere Eisenbahnzüge ausfindig machen; ich verlor das Interesse an Autogrammalben und allen anderen Erscheinungsformen des Sammlerinstinktes und stürzte mich bei jeder Gelegenheit in die losgelöste und insgesamt doch

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