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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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sie die Augen schloss, und welcher Silberschmiedsohn aus Benares (zwölf Sekunden nach Mitternacht) die Gabe mitbekam, durch die Zeit zu reisen und somit sowohl die Zukunft vorherzusagen als auch die Vergangenheit zu erhellen – eine Gabe, der wir, Kinder, die wir waren, blind vertrauten, wenn es um längst vergangene und vergessene Dinge ging, die wir aber verspotteten, wenn er uns vor unserem eigenen Ende warnte ... glücklicherweise gibt es solche Register nicht; und ich für mein Teil werde ihre Namen und selbst ihre Wohnorte nicht bekannt geben – und wenn es so aussieht, als täte ich dies, sind die Angaben nicht richtig –, denn obwohl solche Belege den absoluten Beweis für meine Behauptungen erbringen würden, verdienen die Kinder der Mitternacht es nun dennoch, nach alldem, in Ruhe gelassen zu werden, vielleicht zu vergessen; ich aber hoffe (entgegen aller Hoffnung), mich zu erinnern ...
    Parvati-die-Hexe wurde in Alt-Delhi in einem Slum geboren, der sich um die Treppen der Freitagsmoschee ballte. Es war dies kein gewöhnlicher Slum, obwohl die aus Pappkartons und Wellblechstücken und Jutesackfetzen gebauten Hütten, die bunt durcheinander
im Schatten der Moschee standen, nicht anders als irgendein anderes Elendsviertel aussahen ... denn dies war das Getto der Magier, ja, genau der Ort, der einst einen Kolibri hervorgebracht hatte, den Messer durchbohrt und Hundebastarde nicht hatten retten können ... der Slum der Zauberkünstler, dem ständig die größten Fakire und Taschenspieler und Gaukler des Landes zuströmten, um ihr Glück in der Hauptstadt zu suchen. Sie fanden Blechhütten und Polizeirazzien und Ratten ... Parvatis Vater war einst der größte Zauberkünstler von Audh gewesen; sie war inmitten von Bauchrednern aufgewachsen, die Steine Witze erzählen lassen konnten, und Schlangenmenschen, die ihre eigenen Beine schlucken konnten, und Feuerschluckern, die Flammen aus ihren Arschlöchern verströmten, und tragischen Clowns, die Glastränen aus ihren Augenwinkeln ausscheiden konnten; nachsichtig hatte sie inmitten der Menge gestanden, die nach Luft rang, während ihr Vater ihr Nägel durch den Hals trieb; und die ganze Zeit hatte sie ihr eigenes Geheimnis gehütet, das größer war als jeglicher Humbug der Illusionisten um sie herum; denn Parvati-der-Hexe, bloße sieben Sekunden nach Mitternacht am 15. August geboren, waren die Kräfte des echten Adepten, des Eingeweihten, verliehen worden, die wahren Gaben der Zauberei und Hexerei, die Kunst, die keine Kunstfertigkeit brauchte.
    So gab es Mitternachtskinder, die mit der Macht der Verwandlung, des Flugs, der Weissagung und Zauberei begabt waren ... aber zwei von uns wurden Schlag Mitternacht geboren. Saleem und Shiva, Shiva und Saleem, Nase und Knie und Knie und Nase ... Shiva hatte die Stunde die Gaben des Krieges verliehen (die Gabe von Rama, der den nicht zu spannenden Bogen spannen konnte, von Arjuna und Bhima, in ihm waren der uralte Heldenmut der Kurus und Pandavas vereinigt, und nichts konnte sich ihm in den Weg stellen) ... und mir die größte Begabung von allem ... die Fähigkeit, in die Herzen und Gedanken der Menschen zu schauen.
    Doch es ist Kali-Yuga; die Kinder der Mitternacht wurden, befürchte ich, mitten im Zeitalter der Dunkelheit geboren, sodass wir, auch wenn wir es leicht fanden, hervorragend zu sein, nie sicher waren, ob wir gut sein sollten oder nicht.
    Da, nun habe ich es gesagt. Das war ich – das waren wir.
    Padma sieht aus, als sei ihre Mutter gestorben – ihr Gesicht mit dem sich öffnenden und schließenden Mund ist das Gesicht eines gestrandeten Pomfrets. «O Baba!», sagt sie schließlich. «O Baba! Du bist krank, was hast du gesagt?»
    Nein, das wäre zu einfach. Ich weigere mich, Zuflucht in der Krankheit zu suchen. Begehen Sie nicht den Fehler, das, was ich Ihnen eröffnet habe, als reines Delirium abzutun oder womöglich als die krankhaft übersteigerten Phantasien eines einsamen hässlichen Kindes. Ich habe zuvor festgestellt, dass ich nicht bildlich spreche; was ich gerade geschrieben (und der verblüfften Padma laut vorgelesen) habe, ist nichts als die lautere Wahrheit, ich schwör’s bei-den-Haaren-meiner-Mutter.
    Wirklichkeit kann Metaphorisches zum Inhalt haben, das macht sie nicht weniger wirklich. Tausendundein Kind wurde geboren, tausendundeine Möglichkeit gab es, die es nie zuvor an einem Ort und zu einer Zeit gegeben hatte, tausendundeine Sackgasse gab es. Die Mitternachtskinder

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