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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Ayah Mary Pereira so vollendet zubereitete, das grashüpfergrüne
Chutney, das auf ewig mit jenen Tagen verbunden ist – sie in die Welt meiner Vergangenheit zurücktrug, während Chutney sie milde und empfänglich stimmte, sprach ich sanft und überzeugend zu ihnen und entzog mich dank einer Mischung aus Würze und Redekunst den Händen der bösartigen Kräutermänner. Ich sagte: «Mein Sohn wird es verstehen. Ebenso wie für jedes andere Lebewesen erzähle ich meine Geschichte für ihn, damit er später, wenn ich in meinem Kampf gegen die Risse unterlegen bin, Bescheid weiß. Sittlichkeit, Urteilskraft, Charakter ... alles fängt mit der Erinnerung an ... und ich behalte Durchschläge.»
    Grünes Chutney auf Chili-Pakoras gleitet in jemandes Schlund, Grashüpfergrünes auf lauwarmen Chapatis verschwindet hinter Padmas Lippen. Ich sehe sie schwach werden und presche voran. «Ich habe euch die Wahrheit gesagt», sage ich noch einmal. «Die Wahrheit der Erinnerung, denn die Erinnerung hat ihre eigene, besondere. Sie wählt aus, eliminiert, verändert, übertreibt, untertreibt, verherrlicht und schmäht auch, aber letzten Endes schafft sie ihre eigene Realität, ihre heterogene, doch in der Regel zusammenhängende Version der Ereignisse, und kein menschliches Wesen bei gesundem Verstand traut je der Version eines anderen mehr als seiner eigenen.»
    Ja, ich sagte «bei gesundem Verstand». Ich wusste, was sie dachten:«Viele Kinder erfinden eingebildete Freunde, aber tausendundeinen! Das ist einfach verrückt!» Die Mitternachtskinder erschütterten selbst Padmas Glauben an meine Erzählung, aber ich stimmte sie um, und nun wird nicht mehr von Ausflügen geredet.
    Wie ich sie überzeugte: indem ich über meinen Sohn sprach, der meine Geschichte kennen sollte; indem ich die Vorgehensweise meines Gedächtnisses erhellte; und durch andere Hilfsmittel, manche naiv aufrichtig, andere fuchsschlau. «Selbst Mohammed», sagte ich, «hielt sich zuerst für wahnsinnig: glaubt ihr, der Einfall sei mir nie gekommen? Der Prophet aber hatte seine Khadija, seinen Abu Bakr, die ihn von der Echtheit seiner Berufung überzeugten;
niemand lieferte ihn Irrenhausärzten aus.» Mittlerweile erfüllte das grüne Chutney sie mit Gedanken an vergangene Jahre; ich sah Schuld und Beschämung auf ihren Gesichtern. «Was ist Wahrheit?» Ich wurde rhetorisch. «Was ist geistige Gesundheit? Ist Jesus aus dem Grab auferstanden? Glauben Hindus nicht – Padma –, dass die Welt eine Art Traum sei, dass Brahma das Universum träumte und es immer noch träumt; dass wir nur undeutlich durch dieses Traumgespinst, das die Maja ist, hindurchsehen? Maja», ich nahm einen hochmütigen, belehrenden Ton an, «kann definiert werden als alles, was trügerisch ist, als Schwindel, Kunstgriff und Betrug. Erscheinungen, Gespenster, Luftbilder, Taschenspielereien, die scheinbare Form der Dinge: All das gehört zur Maja. Wenn ich sage, dass sich gewisse Dinge ereigneten, die du, in Brahmas Traum versunken, kaum glauben kannst, wer von uns hat dann Recht? Nimm noch etwas Chutney», fügte ich gnädig hinzu und nahm mir selbst eine großzügige Portion. «Es schmeckt sehr gut.»
    Padma begann zu weinen. «Ich hab’ nie gesagt, dass ich nicht glaube», heulte sie. «Natürlich, jeder Mensch muss seine Geschichte auf seine Art erzählen, aber ...»
    «Aber», unterbrach ich abschließend, «auch du – oder etwa nicht – willst wissen, wie es weitergeht? Mit den Händen, die tanzten, ohne sich zu berühren, und mit den Knien? Und später kommt noch der merkwürdige Stab von Fregattenkapitän Sabarmati und natürlich Die Witwe? Und die Kinder – was wurde aus ihnen?»
    Und Padma nickte. So viel also zu Ärzten und Irrenhäusern; man lässt mich weiterschreiben. (Allein, abgesehen von Padma zu meinen Füßen.) Chutney und Redekunst, Theologie und Neugierde: diese Dinge haben mich gerettet. Und noch eins – nennen Sie es Erziehung oder Herkunft? Mary Pereira hätte es meine Kinderstube genannt. Durch meine Belesenheit und meine reine Aussprache beschämte ich sie so, dass sie sich nicht würdig fühlten, über mich zu urteilen; keine sehr edle Tat, aber wenn um die Ecke der Krankenwagen wartet, ist alles erlaubt. (Und er wartete tatsächlich: ich roch
es.) Trotzdem – ich habe eine wertvolle Warnung bekommen. Es ist eine gefährliche Sache, wenn man versucht, anderen seine Sicht der Dinge aufzudrängen.
    Padma, wenn du an meiner Verlässlichkeit ein wenig

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