Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
und in ihrer Abwesenheit das schreckliche Geheimnis, die Geschehnisse in Dr. Narlikars Entbindungsheim während der Unabhängigkeitsnacht betreffend, enthüllen würde. Daher verließ sie jeden Morgen bibbernd vor Aufregung die Wohnung und kam dem Zusammenbruch nahe in Buckingham Villa an; erst wenn sie herausgefunden hatte, dass Joe unsichtbar und stumm geblieben war, entspannte sie sich. Wenn sie jedoch mit Samosas und Kuchen und Chutneys beladen zum Marine Drive zurückgekehrt war, steigerte ihre Angst sich wieder ... aber da ich (weil ich selbst genug Ärger hatte) entschlossen war, mich aus allen Köpfen außer denen der Kinder herauszuhalten, wusste ich nicht, warum.
Panik zieht Panik an: Auf ihren Fahrten in überfüllten Bussen (die Straßenbahnen waren gerade abgeschafft worden) hörte Mary alle möglichen Gerüchte und Klatschgeschichten, die sie als unumstößliche Tatsachen an mich weitergab. Mary zufolge wurde das Land von einer Art übernatürlicher Invasion heimgesucht. «Ja, Baba, man sagt, in Kurukshetra ist eine alte Sikh-Frau in ihrer Hütte aufgewacht und hat gesehen, wie sich der längst vergangene Krieg zwischen Kurus und Pandavas direkt vor ihrer Tür abgespielt hat. Es stand in der Zeitung und alles; sie hat die Stelle gezeigt, wo sie die Streitwagen von Arjuna und Karna gesehen hat, und da waren wirklich Wagenspuren im Schlamm! Baap-re-baap, so schlimme Dinge: In Gwalior haben sie den Geist der Rani von Jhansi gesehen; Rakshasas, vielköpfig wie Ravana, wurden gesehen, die den Frauen was antaten und Bäume mit einem Finger umstürzten. Ich bin eine gute Christin, Baba, aber ich bekomme es mit der Angst
zu tun, wenn es heißt, das Grab unseres Herrn Jesus ist in Kaschmir gefunden worden. Auf den Grabstein sind zwei durchbohrte Füße gemeißelt, und eine Frau aus der Gegend hat geschworen, sie hat sie am Karfreitag bluten sehen – richtiges Blut, Gott schütze uns! ... was geht bloß vor, Baba, warum können diese alten Dinge nicht begraben bleiben und aufhören, anständige Leute zu quälen?» Und ich hörte mit großen Augen zu, und obwohl mein Onkel Hanif vor Lachen brüllte, bin ich heute noch halb davon überzeugt, dass sich in jener Zeit beschleunigten Geschehens und ungesunder Stunden die Vergangenheit Indiens erhob, um seine Gegenwart durcheinander zu bringen. Der neugeborene säkulare Staat wurde auf Furcht einflößende Weise an sein sagenhaftes Alter erinnert, an eine Vorzeit, in der Demokratie und Frauenstimmrecht keine Rolle spielten ... sodass die Menschen von atavistischen Sehnsüchten ergriffen wurden, den neuen Mythos der Freiheit vergaßen und zu ihren alten Gewohnheiten, ihren regionalistischen Bindungen und Vorurteilen zurückkehrten und der Staatskörper aufzubrechen begann. Wie ich schon sagte: Man braucht bloß eine Fingerkuppe abzuhauen, und schon sprudeln Fontänen der Verwirrung, ohne dass man weiß, wie einem geschieht.
«Und Kühe, Baba, haben sich einfach in Luft aufgelöst, pfff! Und in den Dörfern müssen die Bauern hungern.»
Zur gleichen Zeit war auch ich von einem seltsamen Dämon besessen, aber damit Sie mich richtig verstehen können, muss ich zunächst berichten, was sich an einem harmlosen Abend zutrug, an dem Pia und Hanif Aziz eine Gruppe Freunde zum Kartenspielen eingeladen hatten.
Meine Tante neigte dazu, zu übertreiben, denn trotz der Abwesenheit von Filmfare und Screen Goddess war die Wohnung meines Onkels immer noch ein beliebter Treffpunkt. An Kartenabenden platzte sie aus den Nähten: Jazzmusiker kamen, die über Streitigkeiten und Kritiken in amerikanischen Zeitschriften plauderten, Sängerinnen, die in den Handtaschen Mundsprays mit sich herumtrugen,
und Mitglieder der Uday-Shankar-Tanztruppe, die versuchte, einen neuen Tanzstil zu schaffen, indem sie Formen des westlichen Balletts mit dem Bharatanatyam mischte; es waren Musiker da, die für einen Auftritt beim Musikfestival im All-India Radio, dem Sangeet Sammelan, verpflichtet worden waren; es waren Maler da, die untereinander heftig stritten. Die Luft war erfüllt mit politischen und anderen Gesprächen. «Tatsache ist, dass ich der einzige Künstler in Indien bin, der mit einem echten Sinn für ideologisches Engagement malt!» –«Oh, das mit Ferdy ist wirklich schlimm, er wird danach nie wieder eine andere Band bekommen.» –«Menon? Erzähl mir nichts von Krishna. Ich habe ihn gekannt, als er noch Prinzipien hatte. Ich selbst habe nie aufgehört ...» –«Ohé, Hanif,
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