Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
solche Vertraulichkeiten mit mir gestattete. Vorzeitig mit Hoden versehen und rapide wachsend, war ich dennoch (arglistigerweise) mit dem Kennzeichen sexueller Unschuld ausgestattet: Saleem Sinai trug während des Aufenthalts im Heim seines Onkels noch immer kurze Hosen. Nackte Knie bewiesen Pia meine Kindlichkeit; von Söckchen getäuscht, drückte sie mein Gesicht gegen ihre Brust, während ihre Stimme, vollkommen wie ein Sitar, in mein gesundes Ohr flüsterte: «Kind, Kind, hab keine Angst, deine Wolken ziehen bald vorbei.»
Für meinen Onkel ebenso wie für meine theatralische Tante spielte ich (zunehmend perfekter) die Rolle des Ersatzsohnes. Hanif Aziz traf man tagsüber mit Bleistift und Schreibblock in der Hand auf dem gestreiften Sofa an, wo er sein Pickles-Epos schrieb. Er trug seinen üblichen Lungi lose um die Taille gebunden, befestigt mit einer enormen Sicherheitsnadel; aus seinen Falten sahen haarig die Beine hervor. Seine Fingernägel trugen die Flecken eines Lebens mit Gold Flakes, seine Zehennägel sahen ähnlich verfärbt aus. Ich bildete mir ein, dass er Zigaretten mit den Zehen rauchte. Tief beeindruckt von der Vision, fragte ich ihn, ob er dieses Kunststück tatsächlich vollbringen könne, und wortlos steckte er sich eine Gold Flake zwischen großen Zeh und Nachbarn und verbog sich zu bizarren Verrenkungen. Ich klatschte begeistert, aber für den Rest des Tages schien er ziemliche Schmerzen zu haben.
Ich kümmerte mich um seine Bedürfnisse, wie ein guter Sohn das tun sollte, leerte Aschenbecher, spitzte Bleistifte, brachte Wasser zum Trinken, während er, der sich nach seinem anfänglichen Fabulieren daran erinnert hatte, dass er seines Vaters Sohn war, und sich gegen alles sperrte, was unwirklich klang, an seinem unglückseligen Drehbuch herumbastelte.
«Sonny Jim», informierte er mich, «dieses verdammte Land träumt seit fünftausend Jahren. Es wird allmählich Zeit, dass es aufwacht.» Hanif liebte es, über Prinzen und Dämonen, Götter und Helden, ja
genau genommen über die ganze Ikonographie des Bombay-Films herzuziehen; im Tempel der Illusionen war er der Hohepriester der Realität geworden, während ich, der ich mir meiner Wundernatur bewusst war, die mich über alle mildernden Umstände hinaus in das (von Hanif verachtete) Mythenleben Indiens verwickelte, mir auf die Lippen biss und nicht wusste, wo ich hinsehen sollte.
Hanif Aziz, der einzige realistische Autor, der in der Filmindustrie von Bombay arbeitete, schrieb die Geschichte einer Picklesfabrik, die ausschließlich von Frauen gegründet, verwaltet und betrieben wurde. Es gab lange Szenen, die die Gründung einer Gewerkschaft beschrieben; es gab detaillierte Beschreibungen des Einlegevorgangs. Er fragte Mary Pereira nach Rezepten aus, und sie diskutierten stundenlang die perfekte Mischung von Zitronen, Limonen und Garam Masala. Es zeugt von Ironie, dass dieser Erzanhänger des Naturalismus ein so kundiger (wenn auch ahnungsloser) Prophet war, wenn es um die Geschicke seiner eigenen Familie ging; in den indirekten Küssen der Liebenden von Kaschmir sagte er die Treffen zwischen meiner Mutter und Nadir-Qasim im Café Pionier voraus, und auch in seinem unverfilmten Chutney-Szenarium lauerte eine Prophezeiung, die sich als entsetzlich genau erweisen sollte.
Er bedrängte Homi Catrack mit Drehbüchern. Catrack produzierte keins davon; sie lagen in der kleinen Wohnung am Marine Drive herum und bedeckten jede verfügbare Oberfläche; sogar vom Klosettdeckel musste man sie entfernen, ehe man ihn hochheben konnte; Catracks Studio zahlte ihm jedoch (aus Barmherzigkeit? oder aus einem anderen Grund, der bald zu enthüllen sein wird?) ein Gehalt. So überlebten sie, Hanif und Pia, dank der Großzügigkeit eines Mannes, der später das zweite menschliche Wesen sein sollte, das von dem emporschießenden Saleem ermordet wurde.
Homi Catrack bat ihn: «Wie wär’s mit einer einzigen Liebesszene? »Und Pia: «Glaubst du denn, Dorfbewohner geben ihre Rupien aus, bloß um zu sehen, wie Frauen Alfonso-Mangos einlegen?» Aber Hanif, halsstarrig: «Das ist ein Film über Arbeit, nicht übers
Küssen. Und kein Mensch legt Alfonsos ein. Man muss Mangos mit größerem Stein nehmen.»
Der Geist Joe D’Costas folgte Mary, soviel ich weiß, nicht ins Exil; doch diente seine Abwesenheit nur dazu, ihre Angst noch zu verstärken. Sie begann in jenen Tagen am Marine Drive zu befürchten, dass er auch für andere außer ihr selbst sichtbar werden
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