Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
ich glaubte weiterhin – und tue das auch heute noch -, dass was-wir-gemeinsam-hatten am Ende was-uns-trennte überwogen hätte. Nein: Ich werde nicht die volle Verantwortung für das Ende der Kinderkonferenz übernehmen, denn was jede Möglichkeit einer Erneuerung zunichte machte, war Ahmed und Amina Sinais Liebe.)
... Und Shiva? Shiva, dem ich kaltblütig sein Geburtsrecht vorenthielt? Kein einziges Mal in jenem letzten Monat schickte ich meine
Gedanken auf die Suche nach ihm; aber dass es ihn irgendwo auf der Welt gab, nagte in den Winkeln meines Geistes. Shiva-der-Vernichter, Shiva mit den aneinander stoßenden Knien ... zuerst war er ein stechender Gewissensbiss, dann wurde er zur fixen Idee und schließlich, als die Erinnerung an seine reale Person abgestumpft war, zu einer Art Prinzip. In meiner Vorstellung repräsentierte er alle Rachsucht und Gewalt und Hassliebe-zu-Dingen auf der Welt, sodass ich selbst jetzt, wenn ich von Wasserleichen höre, die wie Ballons auf dem Hugli treiben und platzen, wenn sie von vorbeifahrenden Booten angestoßen werden, oder von in Brand gesteckten Zügen oder ermordeten Politikern oder Krawallen in Orissa oder im Pandschab, den Eindruck habe, als liege die Hand Shivas schwer auf allen diesen Dingen und verdamme uns dazu, in alle Ewigkeit zwischen Mord, Vergewaltigung, Gier, Krieg umherzuirren – kurzum, als habe Shiva uns zu dem gemacht, was wir sind. (Auch er wurde Schlag Mitternacht geboren; auch er war, wie ich, mit der Geschichte verbunden. Die Verknüpfungsmodi – wenn meine Annahme richtig ist, dass sie auf mich zutrafen – befähigten auch ihn, den Lauf der Zeiten zu beeinflussen.)
Ich rede, als hätte ich ihn nie wieder gesehen, was nicht stimmt. Aber das muss sich natürlich wie alles andere in die Schlange einordnen; im Augenblick habe ich nicht die Kraft, diese Geschichte zu erzählen.
Die Optimismuskrankheit nahm in jenen Tagen wieder einmal epidemische Ausmaße an; ich unterdessen wurde von einer Entzündung der Nasennebenhöhlen befallen. Seltsamerweise durch die Niederlage am Bergrücken von Thag La ausgelöst, wurde der Optimismus der Öffentlichkeit so prall (und so gefährlich) wie ein mit zu viel Gas gefüllter Ballon; meine langmütigen Nasengänge jedoch, die von Anfang an mit zu viel Rotz angefüllt gewesen waren, gaben endlich den Kampf gegen die Verstopfung auf. Während Parlamentarier Reden hervorsprudelten über «die chinesische Aggression» und «das
Blut unserer zu Märtyrern gewordenen jungen Männer», ergossen sich aus meinen Augen Tränen; während die Nation sich aufblies und sich einredete, die Vernichtung der kleinen gelben Männer stehe bevor, schwollen auch meine Nasennebenhöhlen an und entstellten ein Gesicht, das ohnehin so auffällig war, dass Ayub Khan persönlich es mit unverhohlener Verblüffung angestarrt hatte. Von der Optimismuskrankheit angesteckt, verbrannten Studenten Mao Tse-tung und Tschou En-lai in effigie; der Mob, dem das Optimismusfieber im Gesicht geschrieben stand, griff chinesische Schuhmacher, Trödler und Restaurantbesitzer an. Vor Optimismus glühend, internierte die Regierung sogar indische Bürger chinesischer Abstammung – nun «feindliche Ausländer» – in Lagern in Rajasthan. Die Birla-Industriewerke spendeten der Nation einen Schießstand für kleinkalibrige Waffen; Schulmädchen begannen, militärische Paraden abzuhalten. Aber ich, Saleem, hatte das Gefühl, ich würde gleich den Erstickungstod sterben. Die Luft, vom Optimismus angedickt, weigerte sich, in meine Lungen vorzudringen.
Ahmed und Amina Sinai gehörten zu den schlimmsten Opfern der erneut ausgebrochenen Optimismuskrankheit; nachdem sie sich schon durch ihre neugeborene Liebe damit angesteckt hatten, ließen sie sich freudig auf die öffentliche Begeisterung ein. Als Morarji Desai, der Urin trinkende Finanzminister, seinen Appell «Gold für Eisen» an die Nation richtete, lieferte meine Mutter Goldspangen und Smaragdohrringe ab; als Morarji eine Emission von Verteidigungspfandbriefen in Umlauf brachte, kaufte Ahmed Sinai sie haufenweise. Der Krieg hatte Indien anscheinend eine neue Morgenröte beschert; in der Times of India war auf einer Karikatur mit der Überschrift «Krieg mit China» Nehru dargestellt, der sich mit «Emotionale Integration», «Arbeitsfrieden» und «Vertrauen des Volkes in die Regierung» etikettierte Diagramme ansah und ausrief «Nie hatten wir es so gut!» Ausgesetzt im Meer des Optimismus, trieben
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