Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
wir – die Nation, meine Eltern, ich – hilflos auf die Klippen zu.
Als Volk sind wir von Analogien besessen. Ähnlichkeiten zwischen diesem und jenem, zwischen anscheinend unverbundenen Dingen lassen uns entzückt in die Hände klatschen, wenn wir sie herausfinden. Es ist eine Art nationaler Sehnsucht nach Form – oder vielleicht einfach ein Ausdruck unserer tiefen Überzeugung, dass Form in der Realität verborgen liege, dass Bedeutung sich nur blitzartig enthülle. Deshalb sind wir auch so empfänglich für Omen ... als beispielsweise die indische Flagge erstmals gehisst wurde, erschien über jenem bewussten Ort in Delhi ein Regenbogen, ein safrangelber und grüner Regenbogen, und wir fühlten: Uns war Segen zuteil geworden. Inmitten von Analogien geboren, stellte ich fest, dass sie mich auch weiterhin verfolgten ... während die Inder blind auf ein militärisches Debakel zusteuerten, näherte auch ich mich (und zwar vollkommen ahnungslos) einer eigenen Katastrophe.
Die Karikaturen der Times of India sprachen von «Emotionaler Integration»; in Buckingham Villa, dem letzten Überbleibsel von Methwold’s Estate, waren die Gefühle noch nie so integriert gewesen. Ahmed und Amina verbrachten ihre Tage wie frisch verliebte Jugendliche, und während die Pekinger Volkszeitung sich beschwerte:«Die Regierung Nehru hat endlich ihr Mäntelchen der Neutralität abgelegt», beschwerten sich weder meine Schwester noch ich, denn zum ersten Mal seit Jahren brauchten wir nicht so zu tun, als seien wir im Krieg zwischen unseren Eltern neutral; was der Krieg für Indien getan hatte, hatte auf unserem zweigeschossigen Hügelchen die Einstellung der Feindseligkeiten erreicht. Ahmed Sinai hatte sogar seinen nächtlichen Kampf gegen die Dschinns eingestellt.
Am 1. November – INDER GREIFEN UNTER ARTILLERIESCHUTZ AN – hatten meine Nasengänge einen Zustand akuter Krise erreicht. Obwohl meine Mutter mich täglich mit Wick-Inhaliermitteln und dampfenden Schüsseln folterte, die in Wasser aufgelöstes Wick Vapo Rub enthielten, obwohl ich mit einer Decke über dem Kopf dasitzen und versuchen musste, die Dämpfe einzuatmen,
weigerten sich meine Nasennebenhöhlen, auf die Behandlung anzusprechen. Das war der Tag, an dem mein Vater mir seine Arme entgegenstreckte und sagte: «Komm, mein Sohn, komm her und lass mich dich lieben.» Wahnsinnig vor Glück (vielleicht hatte die Optimismuskrankheit mich am Ende doch erwischt), ließ ich mich an seinen weichen Bauch drücken; aber als er mich losließ, hatte Nasenschleim sein Buschhemd befleckt. Ich glaube, das führte endgültig mein Verderben herbei, denn an jenem Nachmittag ging meine Mutter zum Angriff über. Unter dem Vorwand, einen Freund anzurufen, führte sie ein bestimmtes Telefongespräch. Während Inder unter Artillerieschutz angriffen, plante Amina Sinai, durch eine Lüge geschützt, meinen Untergang.
Bevor ich jedoch beschreibe, wie ich die Wüste meiner späteren Jahre betrat, muss ich gestehen, dass ich meinen Eltern möglicherweise bitter unrecht tat. Soweit ich weiß, machten sie sich kein einziges Mal in der ganzen Zeit seit Mary Pereiras Enthüllung auf die Suche nach ihrem richtigen, ihrem leiblichen Sohn, und ich habe diese Unterlassung an mehreren Stellen in diesem Bericht auf einen gewissen Mangel an Vorstellungskraft zurückgeführt – ich habe mehr oder weniger gesagt, dass ich ihr Sohn blieb, weil sie sich mich nicht außerhalb dieser Rolle vorstellen konnten. Und auch schlimmere Deutungen sind möglich – dass sie zum Beispiel nicht die geringste Lust verspürten, einen Straßenjungen ins Herz zu schließen, der elf Jahre in der Gosse verbracht hatte; doch ich möchte ein edleres Motiv andeuten: Vielleicht, trotz allem, trotz Gurkennase, Fleckengesicht, Kinnlosigkeit, Schläfenhörnern, O-Beinen, Fingerverlust, Mönchstonsur und meines schlechten linken Ohrs (von dem sie zugegebenermaßen nichts wussten), sogar trotz Mary Pereiras mitternächtlichen Babytauschs ... vielleicht, sage ich, liebten meine Eltern mich trotz all dieser Ärgernisse. Ich zog mich vor ihnen in meine geheime Welt zurück; aus Furcht vor ihrem Hass ließ ich nicht die Möglichkeit gelten, dass ihre Liebe stärker als Hässlichkeit, stärker sogar als Blut war. Es ist gut möglich, dass das,
was am Telefon arrangiert wurde und was schließlich am 21. November 1962 stattfand, aus dem nobelsten aller Gründe geschah: dass meine Eltern mich aus Liebe zugrunde richteten.
Dieser 20.
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