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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Schlafzimmer im ersten Stock, in dem sie ihn während der Einfrierung gepflegt hatte; Tag und Nacht saß sie bei ihm und verströmte ihre Stärke in seinen Körper. Und ihre Liebe wurde belohnt, denn nicht nur erholte Ahmed Sinai sich so vollkommen, dass die europäischen Ärzte im Breach-Candy-Hospital sich nicht genug wundern konnten, sondern es geschah etwas noch Wunderbareres: Als Ahmed Sinai nämlich unter Aminas Obhut zu sich selbst fand, kehrte er nicht zu dem Ich zurück, das Flüche geübt und mit Dschinns gerungen hatte, sondern zu dem Ich, das er immer hätte sein können, voller Bußfertigkeit und Versöhnlichkeit und Lachen und Großzügigkeit und, das war das schönste Wunder von allen, voller Liebe. Ahmed Sinai hatte sich zu guter Letzt in meine Mutter verliebt.
    Und ich war das Opferlamm, mit dem sie ihre Liebe besiegelten.
Sie hatten sogar begonnen, wieder miteinander zu schlafen, und obwohl meine Schwester – etwas von dem alten Äffchen schlug durch – sagte: «Im selben Bett, Allah, iiih, wie schmutzig!», freute ich mich für sie und für kurze Zeit sogar noch mehr für mich selbst, denn ich war zurück im Land der Mitternachtskinder-Konferenz. Während Schlagzeilen auf den Krieg zumarschierten, erneuerte ich meine Bekanntschaft mit meinen Wunderkindern, ohne zu wissen, wie viele Enden mich erwarteten.
    Am 9. Oktober – INDISCHE ARMEE ZU KOMPROMISS-LOSEM EINSATZ BEREIT – hatte ich das Gefühl, die Konferenz einberufen zu können (die Zeit und meine eigenen Anstrengungen hatten den nötigen Wall um Marys Geheimnis errichtet). Sie kamen zurück in meinen Kopf, und es war eine glückliche Nacht, eine Nacht, in der wir alte Missstimmigkeiten begraben und uns unsererseits kompromisslos für eine Wiedervereinigung einsetzen konnten. Wir beteuerten immer wieder unsere Freude darüber, wieder beisammen zu sein, und ignorierten die tiefer liegende Wahrheit – dass wir wie alle Familien waren, dass die Vorfreude auf ein Familientreffen schöner ist als die Wirklichkeit und dass die Zeit kommt, in der alle Familien getrennte Wege gehen müssen. Am 15. Oktober – UNPROVOZIERTER ANGRIFF AUF INDIEN – begannen die Fragen, die ich gefürchtet und nicht zu provozieren versucht hatte: Warum ist Shiva nicht hier? Und: Warum hast du einen Teil deines Geistes abgeschottet?
    Am 20. Oktober wurde die indische Armee von den Chinesen am Bergrücken von Thag La geschlagen – vernichtend geschlagen. Eine offizielle Stellungnahme aus Peking lautete: Chinesische Grenzposten gingen zur Selbstverteidigung über. Aber als zur gleichen Zeit die Kinder der Mitternacht gemeinsam einen Angriff auf mich starteten, konnte ich mich nicht verteidigen. Sie griffen auf breiter Front und aus allen Richtungen an, beschuldigten mich der Heimlichtuerei, der Irreführung, der Anmaßung, des Egoismus; mein Geist, nicht länger ein Parlamentssaal, wurde zum Schlachtfeld, auf dem
sie mich vernichtend schlugen. Jetzt war ich nicht mehr der «große Bruder Saleem», und hilflos hörte ich zu, wie sie mich in Stücke rissen, denn trotz ihres Getöses und ihrer Wut konnte ich nicht herauslassen, was ich versiegelt hatte; ich konnte mich nicht dazu überwinden, ihnen Marys Geheimnis zu erzählen. Sogar Parvati-die-Hexe, die so lange Zeit meine ergebenste Anhängerin gewesen war, verlor schließlich die Geduld mit mir. «O Saleem», sagte sie, «Gott weiß, was Pakistan dir angetan hat, aber du hast dich schrecklich verändert.»
    Einst, vor langer Zeit, hatte der Tod Mia Abdullahs eine andere Konferenz zunichte gemacht, die nur durch seine Willenskraft zusammengehalten worden war; als nun die Mitternachtskinder den Glauben an mich verloren, verloren sie auch den Glauben an das, was ich für sie geschaffen hatte. Zwischen dem 20. Oktober und dem 20. November berief ich weiterhin unsere nächtlichen Sitzungen ein – oder versuchte, sie einzuberufen; aber sie flohen vor mir, nicht einzeln, sondern zu zehnt oder zwanzig; jede Nacht waren weniger Kinder bereit, sich einzuschalten, jede Woche zogen sich über hundert ins Privatleben zurück. Hoch oben im Himalaja flohen Gurkhas und Rajputen in wilden Haufen vor der chinesischen Armee; und in den oberen Regionen meines Geistes wurde auch eine andere Armee von Dingen zerstört – Hader, Vorurteile, Langeweile, Eigensucht -, die ich für zu klein, zu unbedeutend gehalten hatte, um mich damit zu befassen.
    (Doch wie eine schleichende Krankheit weigerte sich der Optimismus zu verschwinden;

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