Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
hatte sie enorme Anforderungen an ihre entgegenkommende Gutmütigkeit ausgehalten. Er ließ sie bis Mitternacht bei sich sitzen, während er Dschinns trank und sich über die Ungerechtigkeiten seines Lebens austobte; er erinnerte sich an seinen alten, jahrelang vergessenen Traum, den Koran zu übersetzen und neu zu ordnen, und warf seiner Familie vor, sie habe ihn so ausgezehrt, dass er nicht mehr die Energie hätte, solch eine Aufgabe zu beginnen; und weil sie gerade da war, richtete sein Zorn sich außerdem oft gegen sie selbst und äußerte sich in langen Tiraden, in denen es wimmelte von Gossensprüchen und den nutzlosen Flüchen, die er sich in den Tagen seiner tiefsten Abstraktion ausgedacht hatte. Sie versuchte, verständnisvoll zu sein; er war ein einsamer Mann, seine einst zuverlässige Beziehung zum Telefon war durch die wirtschaftlichen Kapriolen der Zeit zerstört worden; sein sicheres Gespür in finanziellen Angelegenheiten hatte begonnen, ihn zu verlassen ... auch wurde er das Opfer seltsamer Ängste. Als die chinesische Straße im Aksai-Chin-Gebiet entdeckt wurde, gelangte er zu der Überzeugung, dass die gelben Horden innerhalb von ein paar Tagen auf Methwold’s Estate eintreffen würden, und Alice tröstete ihn mit eiskaltem Coca-Cola und sagte: «Machen Sie sich keine Sorgen.
Diese Schlitzaugen sind zu klein, um unsere Jawans zu schlagen. Trinken Sie lieber Ihr Cola; nichts wird sich ändern.»
Am Ende hatte er sie zermürbt; sie blieb zum Schluss nur noch bei ihm, weil sie große Lohnerhöhungen verlangte und auch bekam, und schickte einen großen Teil des Geldes ihrer Schwester Mary nach Goa; doch am 1. September erlag auch sie den Schmeicheleien des Telefons.
Mittlerweile verbrachte sie ebenso viel Zeit wie ihr Arbeitgeber am Telefon, besonders wenn die Narlikar-Frauen anriefen. Die furchtbaren Narlikars belagerten zu jener Zeit meinen Vater, riefen ihn zweimal am Tag an, versuchten ihn zu beschwatzen und zum Verkauf zu überreden, erinnerten ihn daran, dass seine Lage hoffnungslos war, flatterten um seinen Kopf wie Geier um einen brennenden Godown ... am 1. September ließen sie wie ein Geier aus längst vergangenen Zeiten einen Arm fallen, der ihn mitten ins Gesicht traf, denn sie bestachen Alice Pereira, damit sie ihm weglief. Unfähig, ihn länger zu ertragen, schrie sie: «Gehen Sie selbst ans Telefon! Ich bin nicht mehr da.»
In jener Nacht begann Ahmed Sinais Herz anzuschwellen. Übervoll von Hass Groll Selbstmitleid Schmerz schwoll es an wie ein Ballon, schlug zu stark, schlug unregelmäßig und streckte ihn schließlich nieder wie einen Ochsen; im Breach-Candy-Krankenhaus stellten die Ärzte fest, dass das Herz meines Vaters tatsächlich seine Form verändert hatte – eine neue Schwellung hatte sich klumpig aus der unteren linken Herzkammer herausgedrückt. Es hatte sich, um Alices Wort zu benutzen, «gestiefelt»,
«Back-to-Bom!», kreischte ich glücklich und erschreckte die Gepäckträger am Flughafen. «Back-to-Bom!», jubelte ich trotz allem, bis die neuerdings so gesetzte Jamila sagte: «O Saleem, ehrlich, pst !» Alice Pereira holte uns am Flughafen ab (ein Telegramm hatte sie alarmiert), und dann saßen wir in einem richtigen schwarz-gelben Bombayer Taxi, und ich schwelgte in den Rufen der Händler, die
Channa-heißen-Channa feilboten, im Gedränge von Kamelen Fahrrädern Menschen Menschen Menschen, dachte, dass neben Mumbadevis Stadt Rawalpindi wie ein Dorf aussehe, entdeckte besonders die Farben neu, die vergessene Leuchtkraft von Gulmohr und Bougainvillea, das fahle Grün des Wassers im Becken des Mahalaxmi-Tempels, das steife Schwarzweiß der Sonnenschirme der Verkehrspolizisten und das Blau-Gelb ihrer Uniformen, aber am meisten von allem das Blau Blau Blau des Meeres ... nur das Grau des von der Krankheit gezeichneten Gesichts meines Vaters lenkte mich von dem Regenbogenaufruhr der Stadt ab und ernüchterte mich.
Alice Pereira verließ uns im Krankenhaus und fuhr weiter, um ihrer Arbeit bei den Narlikar-Frauen nachzugehen, und dann geschah etwas Bemerkenswertes. Meine Mutter Amina Sinai, die beim Anblick meines Vaters aus Lethargie und Depression und Schuldschleier und Warzenschmerz auffuhr, schien wunderbarerweise ihre Jugend wiederzugewinnen; ihre ganze frühere Begabung zur Hilfsbereitschaft erlangte sie wieder, und sie machte sich, von einem unaufhaltsamen Willen getrieben, an die Wiederherstellung Ahmed Sinais. Sie brachte ihn nach Hause in das
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