Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
zu dürfen, ging unbefangen neben ihm her. Ein Messingschild am Hauseingang: Hals-Nasen-Ohren-Klinik. Und ich, plötzlich erschrocken: «Was ist das denn, Abba? Warum sind wir ...» Und die Hand meines Vaters drückt fester auf meine Schulter – und dann ein Mann in einem weißen Kittel – und Krankenschwestern – und: «Ah ja, Herr Sinai, das ist also der junge Saleem – ganz pünktlich – sehr schön», während ich: «Abba, nein – was ist mit dem Picknick ...», aber nun lotsen mich Ärzte irgendwohin, mein Vater bleibt zurück, der Mann in dem Kittel ruft ihm nach: «Wird nicht lange dauern – verdammt gute Nachricht, das mit der Waffenruhe, nicht wahr?» Und die Schwester: «Komm bitte mit zum Umkleiden und zur Narkose.»
Hereingelegt! Hereingelegt, Padma! Ich habe dir gesagt: Mit einem Picknick hat man mich einmal hereingelegt; und dann war es ein Krankenhaus und ein Raum mit einem harten Bett und hellen Deckenlampen, und ich weinte: «Nein nein nein», und die Schwester:«Stell dich jetzt nicht so an, du bist doch fast ein erwachsener Mann, leg dich hin», und ich erinnerte mich daran, wie mit den Nasengängen alles in meinem Kopf angefangen hatte, wie die Nasenflüssigkeit hochhochhoch irgendwohin-wo-Nasennüssigkeitnicht-hingelangen-sollte gezogen worden war, wie die Verbindung zustande gekommen war, die meine Stimmen freigelassen hatte, und ich trat mit den Füßen um mich und schrie, sodass sie mich festhalten mussten. «Ehrlich», sagte die Schwester, «so ein Baby. So was hab’ ich noch nie erlebt.»
Und so endete, was in einer Wäschetruhe begonnen hatte, auf einem Operationstisch, denn ich wurde an Händen und Füßen festgehalten, und ein Mann sagte: «Du wirst nichts spüren, es ist noch harmloser als eine Mandeloperation. Diese Nasennebenhöhlen haben wir im Handumdrehen operiert, vollkommen gesäubert», und ich: «Nein, bitte nein», doch die Stimme fuhr fort: «Ich lege dir jetzt diese Maske an, zähl einfach bis zehn.»
Zählen. Die Zahlen marschieren eins zwei drei.
Zischen von ausströmendem Gas. Die Zahlen zermalmen mich vier fünf sechs.
Gesichter verschwimmen in Nebel. Und immer noch die turbulenten Zahlen; ich weinte, glaube ich, die Zahlen stampften sieben acht neun. Zehn.
«Guter Gott, der Junge ist immer noch bei Bewusstsein. Erstaunlich. Wir versuchen es lieber nochmal – kannst du mich hören? Saleem, so heißt du doch, oder? Braver Junge, zähl doch nochmal bis zehn für mich!» Mich könnt ihr nicht austricksen. In meinem Kopf haben Massen getobt. Der Herr der Zahlen, ich. Hier kommen sie wieder elf zwölf.
Aber sie werden mich erst gehen lassen wenn ... dreizehn vierzehn fünfzehn ... O Gott, o Gott, der Nebel so Schwindel erregend, und ich falle zurück zurück zurück sechzehn, hinter Krieg und Pfefferstreuer, zurück zurück siebzehn achtzehn neunzehn.
Zwan
Es gab einmal eine Wäschetruhe und einen Jungen, der zu sehr schniefte. Seine Mutter entkleidete sich und offenbarte eine schwarze Mango. Er hörte Stimmen, die nicht die Stimmen der Erzengel waren. Eine Hand machte sein linkes Ohr taub. Und was am besten bei Hitze gedieh: Phantasie, Unvernunft, Lust. Es gab einen Zufluchtsort im Uhrturm und Mogeln im Unterricht. Und Liebe in Bombay verursachte einen Fahrradunfall; Schläfenhörner schmiegten sich in Zangendellen; und fünfhunderteinundachtzig Kinder
fanden sich in meinem Kopf ein. Mitternachtskinder: die vielleicht die Verkörperung der Hoffnung auf Freiheit waren, die vielleicht auch Monster waren, die erledigt werden mussten. Parvati-die-Hexe, die treueste von allen, und Shiva, der ein Lebensprinzip wurde. Es gab die Frage nach dem Zweck und die Auseinandersetzung zwischen Ideen und Dingen. Es gab Knie und Nase und Nase und Knie.
Streitereien begannen, und die Welt der Erwachsenen unterwanderte die Welt der Kinder; es gab Eigensucht und Snobismus und Hass. Und die Unmöglichkeit eines dritten Prinzips; die Angst, zu guter Letzt zu gar nichts zu kommen, begann zu wachsen. Und was niemand sagte: dass der Zweck der fünfhunderteinundachtzig in ihrer Vernichtung lag, dass sie gekommen waren, um zu nichts zu kommen. Diesbezügliche Prophezeiungen wurden ignoriert.
Und Enthüllungen und das Sich-Abkapseln eines Geistes und Exil und vier Jahre danach Wiederkehr, wachsendes Misstrauen, heraufziehende Zwietracht, Auszug in Gruppen von zwanzig oder zehn. Und am Ende blieb nur noch eine einzige Stimme, doch der Optimismus lebte noch immer fort;
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