Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
November war ein schrecklicher Tag, die Nacht war eine schreckliche Nacht ... sechs Tage zuvor, an Nehrus dreiundsiebzigstem Geburtstag, hatte die große Auseinandersetzung mit der chinesischen Armee begonnen; die indische Armee – UNSERE JAWANS IN VOLLER AKTION – hatte die Chinesen in Walong angegriffen. Die Nachricht von dem Desaster in Walong und dem fluchtartigen Rückzug von General Kaul und vier Bataillonen erreichte Nehru am Samstag, dem 18.; am Montag, dem 20., verbreitete sie sich durch Rundfunk und Presse und erreichte Methwold’s Estate. PANIK IN NEU-DELHI! INDISCHE ARMEE AUF-GERIEBEN! An jenem Tag – dem letzten meines alten Lebens – saß ich mit meiner Schwester und meinen Eltern um die Telefunken-Musiktruhe gedrängt, während die Telekommunikation die Furcht vor Gott und China in unsere Herzen einpflanzte. Und nun sagte mein Vater etwas Verhängnisvolles. «Frau», hob er feierlich an, während Jamila und ich vor Angst zitterten, «Begum Sahiba, dieses Land ist erledigt. Bankrott. Funtoosh.» Die Abendzeitung verkündete das Ende der Optimismuskrankheit: ÖFFENTLICHE MORAL VERSIEGT. Und auf dieses Ende sollten andere folgen, andere Dinge sollten ebenfalls versiegen. Ich ging zu Bett mit dem Kopf voll von chinesischen Gesichtern Gewehren Panzern ... aber um Mitternacht war mein Kopf leer und ruhig, denn auch die mitternächtliche Konferenz war versiegt; das einzige der Zauberkinder, das bereit war, mit mir zu reden, war Parvati-die-Hexe‹ und wir, aufs Äußerste deprimiert über das, was Nussie-die-Ente «das Ende der Welt» genannt hätte, konnten nur noch schweigend miteinander kommunizieren.
Und noch andere, banalere Dinge wurden trockengelegt: In dem mächtigen Staudamm des Wasserkraftwerks von Bhakra Nangal erschien ein Riss, und das große Reservoir dahinter floss durch den
Spalt aus ... und das Landgewinnungskonsortium der Narlikar-Frauen, Optimismus und Niederlagen und allem anderen außer den Lockungen des Reichtums unzugänglich, gewann weiterhin Land aus den Tiefen der See ... aber die entscheidende Trockenlegung, die, welcher diese Episode letztlich ihren Titel verdankt, fand am nächsten Morgen statt, als ich mich gerade etwas entspannt hatte und dachte, dass vielleicht doch noch etwas gut werden könnte ... denn am Morgen hatten wir die unwahrscheinlich freudige Nachricht vernommen, dass die Chinesen plötzlich, ohne dass sie dazu gezwungen waren, ihren Vormarsch gestoppt hatten. Anscheinend waren sie damit zufrieden, die Kontrolle über die Höhen des Himalajas erlangt zu haben. WAFFENRUHE!, schrien die Zeitungen, und meine Mutter fiel vor Erleichterung fast in Ohnmacht. (Es ging das Gerücht, dass General Kaul gefangen genommen worden sei; Indiens Präsident, Dr. Radhakrischnan, kommentierte: «Leider entspricht dieser Bericht ganz und gar nicht der Wahrheit.»)
Trotz tränender Augen und geschwollener Nasennebenhöhlen war ich glücklich; sogar trotz des Endes der Kinderkonferenz sonnte ich mich in dem neuen Schein des Glücks, der Buckingham Villa durchdrang, sodass ich, als meine Mutter vorschlug: «Lasst uns wegfahren und feiern! Ein Picknick, Kinder, wie gefällt euch das?», natürlich eifrig zustimmte. Es war der Morgen des 21. November; wir halfen bei der Zubereitung von Sandwiches und Parathas, wir hielten an einem Geschäft für Erfrischungsgetränke und luden einen Blechbehälter mit Eis und einen Kasten Cola in den Kofferraum unseres Rovers; Eltern vorne, Kinder hinten, so fuhren wir los. Jamila die Sängerin sang während der Fahrt für uns.
Durch entzündete Nasennebenhöhlen fragte ich: «Wohin fahren wir? Nach Juhu? Elephanta? Marve? Wohin?» Und meine Mutter, verlegen lächelnd: «Es ist eine Überraschung, wart nur ab.» Durch Straßen voll von erleichterten, jubilierenden Menschenmassen fuhren wir ... «Das ist die falsche Richtung», rief ich aus. «Hier geht’s doch nicht zum Strand?» Meine Eltern sprachen beide gleichzeitig,
beruhigend; heiter: «Wir müssen erst noch einmal Halt machen, und dann geht’s los, versprochen!»
Telegramme riefen mich zurück, Musiktruhen jagten mir Angst ein, doch es war das Telefon, das Datum Ort Zeit meiner Vernichtung vormerkte ... und meine Eltern logen mich an.
... Wir hielten vor einem mir unbekannten Gebäude in der Carnac Road. Äußeres: zerfallend. Alle Fenster: blind. «Kommst du mit mir, Sohn?» Ahmed Sinai stieg aus dem Auto aus; ich, glücklich, meinen Vater bei seinem Geschäftsbesuch begleiten
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