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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Büchern des Himmels, Sidjeen und Illiyun, den Büchern des Guten und des Bösen, versiegelt; jedenfalls wird es so erzählt.
    ... Erst als wir an Bord der S. S. Sabarmati waren und vor dem Ran von Kutch vor Anker lagen, erinnerte ich mich an den alten
Schaapsteker und fragte mich plötzlich, ob ihm irgendjemand gesagt hatte, wohin wir gingen. Zu fragen traute ich mich nicht aus Angst, die Antwort könne nein lauten; als ich also an das Abreißkommando dachte, das sich an die Arbeit machte, und mir vorstellte, wie die Maschinen der Zerstörung ins Büro meines Vaters und mein eigenes blaues Zimmer einbrachen, die eiserne Wendeltreppe für die Dienstboten und die Küche abrissen, in der Mary Pereira ihre Ängste in Chutneys und Pickles gerührt hatte, wie sie den Balkon niedermachten, auf dem meine Mutter mit dem Kind in ihrem Bauch wie versteinert gesessen hatte, da hatte ich auch das Bild einer mächtigen, schwingenden Kugel vor Augen, die in Scharfstechers Reich krachte, und das des verrückten alten Mannes selbst, bleich, verbraucht, züngelzungig, der dort zwischen niederstürzenden Türmchen und rotem Ziegeldach auf ein zusammenfallendes Haus hinausgeschleudert wurde. Der alte Schaapsteker schrumpfte alterte starb im Sonnenschein, den er so viele Jahre nicht mehr gesehen hatte. Aber vielleicht stelle ich mir das zu dramatisch vor: ich habe das vielleicht alles aus einem alten Film namens Lost Horizon, in dem schöne Frauen dahinwelkten und starben, wenn sie von Shangri-La weggingen.
    Für jede Schlange gibt es eine Leiter, für jede Leiter eine Schlange. Wir trafen am 9. Februar in Karatschi ein – und innerhalb weniger Monate hatte meine Schwester Jamila die Karriere begonnen, die ihr den Namen «Engel Pakistans» und «Bülbül-des-Glaubens» einbringen würde; wir hatten Bombay verlassen, aber wir gewannen den Abglanz von Ruhm. Und noch etwas: Wenn man mich auch dräniert hatte – wenn auch keine Stimmen mehr in meinem Kopf sprachen und es auch nie wieder tun würden –, so gab es doch eine Entschädigung: Zum ersten Mal in meinem Leben genoss ich die erstaunlichen Wonnen, die der Geruchssinn vermitteln kann.

Jamila die Sängerin
    Es stellte sich heraus, dass er fein genug war, den klebrigen Gestank der Heuchelei hinter dem Willkommenslächeln zu unterscheiden, mit dem meine Tante Alia uns im Hafen von Karatschi begrüßte. Unheilbar verbittert, seit mein Vater in die Arme ihrer Schwester desertiert war, war meine Tante die Rektorin vor ungebrochener Eifersucht schwerfällig und beleibt geworden, die dicken dunklen Haare der Missgunst sprossen durch fast alle Poren ihrer Haut. Und vielleicht gelang es mir, meine Eltern und Jamila zu täuschen, als sie mit ausgebreiteten Armen auf uns zuwatschelte und rief: «Ahmed Bhai, endlich! Aber besser spät als nie!» und wie eine Spinne ihre Gastfreundschaft anbot – die natürlich angenommen wurde; ich aber, der ich einen Großteil meiner Kinderzeit die bitteren Fäustlinge und die säuerlichen Pudelmützen ihres Neids getragen hatte, der, ohne es zu wissen, von den harmlos aussehenden Babysachen, in die sie ihren Hass eingestrickt hatte, mit Versagen angesteckt worden war und der sich außerdem gut daran erinnern konnte, was es hieß, von Rachedurst besessen zu sein, ich, Saleem-der-Dränierte, konnte die rachsüchtigen Ausdünstungen riechen, die aus ihren Drüsen sickerten. Es stand jedoch nicht in meiner Macht zu protestieren, wir wurden in den Datsun ihrer Rache geladen und die Bunder Road hinunter zu ihrem Haus in Guru Mandir gefahren  – wie die Fliegen oder noch dümmer, denn wir feierten auch noch unsere Gefangenschaft.
    ... Aber was für ein Geruchssinn es war! Die meisten von uns werden von der Wiege an darauf geeicht, das kleinstmögliche Spektrum von Gerüchen zu erkennen; ich jedoch hatte mein Leben lang überhaupt nichts riechen können und ahnte folglich nichts von
Geruchstabus. Daher fiel es mir zum Beispiel schwer, Unschuld zu heucheln, wenn jemand einen Darmwind fahren ließ – was mich bei meinen Eltern in gewisse Schwierigkeiten brachte; wichtiger war jedoch, dass meine Nase das Vorrecht hatte, viel mehr zu inhalieren als die Gerüche rein physischen Ursprungs, mit denen der Rest der menschlichen Rasse sich zufrieden geben musste. Von den frühesten Tagen meiner Jugendzeit in Pakistan an begann ich also die heimlichen Aromen der Welt kennen zu lernen, das zu Kopf steigende, doch schnell verfliegende Parfüm neuer Liebe und auch den

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