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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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dass er das Gesicht von Jamila der Sängerin sah. Der Abend endete, als alle Gäste an ihren Tischen eingeschlafen waren, doch Jamila die Sängerin wurde von einem schläfrig strahlenden Latif in ihre Gemächer geleitet.
    Um Mitternacht wurde Saleem wach und merkte, dass er immer noch das magische Pergament von Mutasim dem Schönen in der rechten Hand hielt, und da der Nordwind immer noch sanft durch sein Zimmer blies, entschloss er sich, in Chappals und Morgenmantel durch die dunklen Korridore des herrlichen Palastes zu schleichen, vorbei an all dem aufgehäuften Schutt einer verfallenden Welt, rostenden Rüstungen und alten Wandteppichen, die jahrhundertelang die Milliarde Motten des Palastes mit Nahrung versorgt hatten, riesigen Mahaseer-Forellen, die in Glasmeeren schwammen, und einer Fülle von Jagdtrophäen, einschließlich eines trübe gewordenen goldenen Rebhuhns auf einer Teakholzplatte, das an den Tag erinnerte, an dem ein früherer Nawab in Begleitung von Lord Curzon und Konsorten III III Rebhühner an einem einzigen Tag geschossen hatte; er schlich an den Statuen toter Vögel vorbei in die Zenana-Gemächer, wo die Frauen des Palastes schliefen, wählte, in der Luft schnüffelnd, eine Tür aus, drückte den Griff nach unten und ging hinein.
    Ein riesiges Bett stand da mit einem sich sacht bewegenden Moskitonetz, in dem sich ein Strom farblosen, irremachenden mitternächtlichen Mondlichts fing; Saleem bewegte sich darauf zu und blieb dann stehen, weil er am Fenster die Gestalt eines Mannes gesehen hatte, der versuchte, ins Zimmer einzusteigen. Mutasim der Schöne, dreist geworden infolge seiner Vernarrtheit und des Haschaschinwinds, hatte beschlossen, koste es, was es wolle, Jamilas
Gesicht anzusehen ... Und Saleem, im Schatten des Zimmers unsichtbar, rief aus: «Hände hoch, oder ich schieße!» Saleem bluffte, aber das wusste Mutasim, dessen Hände das Fensterbrett umklammerten und sein volles Gewicht trugen, nicht, und so befand er sich in einem Dilemma: Sollte er sich festhalten und erschossen werden oder loslassen und fallen? Er versuchte, Einwände zu machen. «Du hast doch hier auch nichts zu suchen», sagte er. «Ich sage es Amina Begum.» Er hatte die Stimme seines Peinigers erkannt, doch Saleem wies ihn auf die Schwäche seiner Position hin, und Mutasim bat inständig: «Ist ja gut, nur schieß nicht», und durfte so, wie er hochgekommen war, wieder hinuntersteigen. Am Tag danach überredete Mutasim seinen Vater, bei Jamilas Eltern einen offiziellen Heiratsantrag vorzubringen, doch sie, die ohne Liebe geboren und aufgezogen worden war, hielt an ihrem alten Hass auf alle fest, die behaupteten, sie zu lieben, und wies ihn ab. Er verließ Kif und kam nach Karatschi, doch sie wollte sich nicht auf seine zudringlichen Anträge einlassen, und schließlich trat er in die Armee ein und wurde ein Märtyrer des Krieges von 1965.
    Die Tragödie von Mutasim dem Schönen ist jedoch nur eine Nebenhandlung unserer Geschichte, denn nun waren Saleem und seine Schwester allein, und sie, die durch den Wortwechsel zwischen den beiden jungen Männern wach geworden war, fragte: «Saleem? Was ist los?»
    Saleem trat ans Bett seiner Schwester, seine Hand suchte die ihre, und Pergament wurde gegen Haut gepresst. Erst jetzt ließ Saleem, dessen Zunge der Mond und die lustgetränkte Brise gelöst hatten, jeden Gedanken an Reinheit fahren und gestand seiner mit offenem Munde zuhörenden Schwester seine Liebe.
    Schweigen herrschte, dann schrie sie auf: «O nein, wie kannst du ... », aber der Zauber des Pergaments focht eine Schlacht mit der Stärke ihres Hasses auf die Liebe aus, und so lauschte sie, obwohl ihr Körper steif und angespannt wie der eines Ringers wurde, doch seinen Erklärungen, dass es keine Sünde sei, er habe alles bedacht,
sie seien ja schließlich nicht wirklich Bruder und Schwester, das Blut in seinen Adern sei nicht das ihre; in der Brise dieser wahnsinnigen Nacht versuchte er alle Knoten zu lösen, die noch nicht einmal Mary Pereiras Geständnis zu entknoten vermocht hatte. Doch noch während er sprach, konnte er hören, wie hohl seine Worte klangen, und er erkannte, dass es, obwohl alles, was er sagte, die buchstäbliche Wahrheit war, noch andere Wahrheiten gab, die wichtiger geworden waren, weil die Zeit sie geheiligt hatte; und obwohl weder Scham noch Entsetzen angebracht waren, las er beides auf ihrer Stirn, roch es auf ihrer Haut und konnte es, was viel schlimmer war, in sich fühlen und an sich

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