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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Reinheit erlangte ... die Uhr läuft nun, und weil jeder Countdown unabdingbar bei null endet, möchte ich festhalten, dass das Ende am 22. September 1965 kam und dass die Null just in dem Augenblick erreicht wurde, als es Mitternacht schlug. Auch wenn die alte Standuhr im Haus meiner Tante Alia, die genau ging, aber immer zwei Minuten zu spät ertönte, nie eine Chance zum Schlagen hatte.
     
    Meine Großmutter Naseem Aziz traf Mitte des Jahres 1964 in Pakistan ein. Sie ließ ein Indien hinter sich, in dem Nehrus Tod erbitterte Machtkämpfe heraufbeschworen hatte. Morarji Desai, der Finanzminister, und Jagjivan Ram, der einflussreichste Sprecher der Unberührbaren, waren sich in ihrem Entschluss einig, die Etablierung einer Nehru-Dynastie zu vereiteln; Indira Gandhi war somit die Führerschaft verwehrt. Der neue Ministerpräsident war Lal Bahadur Shastri, ein weiterer Angehöriger jener Generation von Politikern, die anscheinend in Unsterblichkeit eingelegt waren; aber im Fall von Shastri war dies nur Maja, Illusion. Nehru und Shastri haben beide ihre Sterblichkeit voll unter Beweis gestellt, doch sind noch genügend andere übrig, die die Zeit in ihren mumifizierten
Fingern festhalten und verhindern, dass sie sich bewegt ... in Pakistan jedoch machten die Uhren Ticktack.
    Nach außen hin billigte Ehrwürdige Mutter die Karriere meiner Schwester nicht; sie hatte einen zu starken Beigeschmack von Startum.«Meine Familie, wieheißtesnoch», seufzte sie Pia Mumani vor, «ist noch unkontrollierbarer als der Benzinpreis.» Insgeheim war sie aber vielleicht doch beeindruckt, denn Macht und Rang respektierte sie, und Jamila war nun so hoch aufgestiegen, dass sie bei den mächtigsten und angesehensten Familien des Landes ein und aus ging ... meine Großmutter ließ sich in Rawalpindi nieder; erstaunlicherweise demonstrierte sie jedoch Unabhängigkeit, indem sie es vorzog, nicht im Haus von General Zulfikar zu leben. Sie und meine Tante Pia zogen in einen bescheidenen Bungalow in der Altstadt; sie legten ihre Ersparnisse zusammen und erwarben eine Konzession für die lang erträumte Zapfsäule.
    Naseem erwähnte Aadam Aziz nie und trauerte auch nicht um ihn; es schien fast, als sei sie erleichtert, dass mein verdrossener Großvater, der in seiner Jugend die pakistanische Bewegung verachtet hatte und aller Wahrscheinlichkeit nach der Moslem-Liga die Schuld am Tod seines Freundes Mian Abdullah gab, ihr durch sein Ableben erlaubt hatte, allein ins Land der Reinen zu gehen. Ehrwürdige Mutter widersetzte sich der Vergangenheit und konzentrierte sich auf Benzin und Öl. Die Tankstelle hatte eine vorzügliche Lage, nahe der großen Überlandstraße zwischen Rawalpindi und Lahore; das Geschäft lief sehr gut. Pia und Naseem übernahmen es abwechselnd, den Tag in dem Glashäuschen des Geschäftsführers zu verbringen, während Tankwarte Wagen und Armeelaster voll tankten. Sie erwiesen sich als magische Kombination. Pia zog Kunden mit dem Leuchtfeuer einer Schönheit an, die sich hartnäckig weigerte zu vergehen; Ehrwürdige Mutter, die sich durch ihr Witwentum in eine Frau verwandelt hatte, die mehr am Leben ihrer Mitmenschen als an ihrem eigenen interessiert war, gewöhnte sich an, die Kunden der Tankstelle zu einer Tasse rosafarbenen kaschmirischen Tees in ihr Glashäuschen einzuladen;
sie nahmen nicht ohne Beklemmung an, doch sobald sie erkannten, dass die alte Dame nicht vorhatte, sie mit endlosen Erinnerungen zu langweilen, entspannten sie sich, sie lockerten ihre Hemdkragen, ihre Zungen lösten sich, und Ehrwürdige Mutter konnte durch anderer Leute Leben in gesegnete Vergessenheit eintauchen. Die Tankstelle wurde in der Gegend schnell berühmt, Fahrer begannen, Umwege zu machen, um bei ihr vorzufahren – oft an zwei aufeinander folgenden Tagen, damit sie sowohl ihre Augen wohlgefällig auf meiner göttlichen Tante Pia ruhen lassen als auch ihre Kümmernisse meiner unendlich geduldigen Großmutter berichten konnten, welche die Saugfähigkeit eines Schwamms entwickelt hatte und immer wartete, bis ihre Gäste ganz zu Ende erzählt hatten, ehe sie aus ihren eigenen Lippen ein paar Tropfen schlichten soliden Rats quetschte. Während ihre Autos mit Benzin gefüllt und von Tankwarten poliert wurden, lud meine Großmutter ihr Leben wieder auf und polierte es. Sie saß in ihrem gläsernen Beichtstuhl und löste die Probleme der Welt; ihre eigene Familie hatte in ihren Augen jedoch anscheinend an Bedeutung

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