Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
riechen. So war letzten Endes noch nicht einmal das Zauberpergament von Mutasim dem Schönen wirkungsvoll genug, um Saleem Sinai und Jamila die Sängerin zusammenzubringen; gesenkten Hauptes verließ er ihr Zimmer, und sie blickte ihm nach mit den Augen eines aufgescheuchten Rehs. Und mit der Zeit ließ die Wirkung des Zauberspruchs gänzlich nach, und sie nahm schreckliche Rache. Als er das Zimmer verließ, wurden die Korridore des Palastes plötzlich vom Gekreisch einer frisch verlobten Prinzessin erfüllt, die von ihrer Hochzeitsnacht geträumt hatte, und in diesem Traum schwamm ihr Ehebett plötzlich und unerklärlicherweise in einer gelben, ranzig riechenden Flüssigkeit; danach zog sie Erkundigungen ein, und als sie erfuhr, wie prophetisch ihr Traum gewesen war, beschloss sie, nicht in die Pubertät zu kommen, solange Zafar lebte, damit sie weiterhin in ihrem Palastbett schlafen und vom übel riechenden Gräuel seiner Schwäche verschont bleiben konnte.
Am nächsten Morgen fanden sich die beiden Bösewichte von der Vereinigten Oppositionspartei beim Erwachen wieder in ihren eigenen Betten, aber als sie sich angekleidet hatten und die Tür ihrer Kammer öffneten, fanden sie zwei der größten Soldaten Pakistans davor, die friedlich mit gekreuzten Gewehren dastanden und den Ausgang versperrten. Die Bösewichte brüllten und verlegten sich aufs Bitten, aber die Soldaten blieben auf dem Posten, bis die
Wahllokale geschlossen hatten; dann verschwanden sie geräuschlos. Die Bösewichte suchten den Nawab auf und trafen ihn in seinem außergewöhnlichen Rosengarten an; sie fuchtelten mit den Armen und erhoben die Stimme, Rechtsverdrehung wurde erwähnt und Wahlschiebung und auch Schikane, doch der Nawab zeigte ihnen dreizehn neue Sorten der Kifi-Rose, die er selbst gekreuzt hatte. Sie tobten weiter – Tod der Demokratie, autokratische Tyrannei –, bis er ganz, ganz sanft lächelte und sagte: «Meine Freunde, gestern wurde meine Tochter mit Zafar Zulfikar verlobt, bald wird mein anderes Mädchen hoffentlich den lieben Sohn unseres Präsidenten heiraten. Denkt doch einmal darüber nach – welche Schande für mich, welche Schmach für meinen Namen, wenn in Kif auch nur eine einzige Stimme gegen meine zukünftigen Verwandten abgegeben würde! Freunde, ich bin ein Mann, für den Ehre von Bedeutung ist, deshalb bleibt in meinem Haus, eßt und trinkt, doch verlangt nichts, was ich nicht geben kann.»
Und wir alle lebten glücklich bis ans Ende unserer Tage ... auf jeden Fall endet meine Geschichte auch ohne den traditionellen, frei erfundenen letzten Satz aus den Märchen im Phantastischen, denn als die Basisdemokraten ihre Pflicht getan hatten, verkündeten die Zeitungen – Jang, Dawn, Pakistan Times – einen überwältigenden Sieg der Moslem-Liga des Präsidenten über die Vereinigte Oppositionspartei der mader-i-millat und bewiesen mir damit, dass ich nur ein ganz kleiner, bescheidener Tatsachenverdreher war und dass in einem Land, wo Wahrheit das ist, was man aus ihr macht, die Wirklichkeit buchstäblich aufhört zu existieren, sodass alles möglich wird außer dem, was uns gegenüber als Tatsache ausgegeben wird. Und vielleicht war das der Unterschied zwischen meiner indischen Kindheit und meiner pakistanischen Jugend – in Ersterer war ich von unendlich vielen alternativen Wirklichkeiten belagert, während ich in Letzterer inmitten einer gleichermaßen unendlichen Zahl von Falschheiten, Unwirklichkeiten und Lügen hilflos und ohne Orientierung umhertrieb.
Ein kleiner Vogel flüstert mir ins Ohr: «Sei fair! Niemand, kein Land, hat ein Monopol auf Unwahrheit.» Ich nehme die Kritik hin; ich weiß, ich weiß. Und Jahre später wusste es auch Die Witwe. Und Jamila: für die das, was (durch Zeit, Gewohnheit, den Ausspruch einer Großmutter, Mangel an Vorstellungskraft, das Sichfügen eines Vaters) als Wahrheit geheiligt worden war, sich als glaubwürdiger erwies als das, was sie im Grunde für wahr erkannt hatte.
Wie Saleem Reinheit erlangte
Was noch darauf wartet, erzählt zu werden: die Wiederkehr von Ticktack. Doch nun beginnt ein Countdown, diesmal zu einem Ende, nicht zu einer Geburt; auch eine Ermüdung ist zu erwähnen, eine generelle Mattigkeit, die so tief ist, dass das Ende, wenn es kommt, die einzige Lösung ist; denn Menschen kann wie Nationen und fiktiven Charakteren einfach die Puste ausgehen, und dann hilft nichts, als mit ihnen Schluss zu machen.
Wie ein Stück aus dem Mond fiel und Saleem
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