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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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verloren.
    Schnurrbärtig, matriarchalisch, stolz: Naseem Aziz hatte ihre eigene Methode gefunden, mit Tragödien fertig zu werden, doch zugleich war sie das erste Opfer dieses Geistes teilnahmsloser Mattigkeit geworden, der das Ende zur einzig möglichen Lösung machte. (Tick, tack.) ... Auf den ersten Blick schien sie freilich nicht die geringste Absicht zu haben, ihrem Mann in den für die Gerechten reservierten Kampfergarten zu folgen; sie schien mehr mit den Methusalems Indiens gemeinsam zu haben, das sie im Stich gelassen hatte. Mit erschreckender Geschwindigkeit wurde sie immer breiter und breiter, bis Maurer bestellt wurden, die ihr Glashäuschen ausbauen sollten. «Macht es groß, ganz groß», befahl sie ihnen mit einem seltenen Aufflackern von Humor. «Vielleicht bin ich in hundert Jahren noch hier, wieheißtesnoch, und nur Allah weiß, wie dick ich bis dahin geworden bin; ich möchte euch doch nicht alle zehn bis zwölf Jahre bemühen.»
    Pia Aziz jedoch war mit «Zapfgefasel» nicht zufrieden. Sie begann eine Reihe von Affären mit Obersten, Kricketspielern, Polospielern, Diplomaten, Affären, die vor einer Ehrwürdigen Mutter, die das Interesse an allem außer dem, was Fremde taten, verloren hatte, leicht zu verbergen waren, ansonsten aber das Stadtgespräch einer doch recht kleinen Stadt waren. Meine Tante Emerald nahm sich Pia vor, und sie antwortete: «Willst du, dass ich ewig heule und mir die Haare raufe? Ich bin noch jung; junge Leute sollten sich ein wenig umsehen.» Emerald sprach dünnlippig: «Aber sei doch ein wenig respektierlich ... der Name der Familie ... » Worauf Pia heftig den Kopf schüttelte. «Sei du doch respektierlich, Schwester», sagte sie, «ich, ich will leben.»
    Mir aber scheint, dass in der Art, wie Pia auf ihrem Recht beharrte, etwas Hohles war, dass auch sie spürte, wie sich mit den Jahren ihre Persönlichkeit allmählich abnutzte, dass ihre fiebrigen Romanzen ein letzter verzweifelter Versuch waren, sich ihrer Rolle entsprechend zu benehmen – so wie man es von einer Frau wie ihr erwartete. Ihr Herz war nicht dabei, irgendwo tief innen wartete auch sie auf ein Ende ... In meiner Familie sind wir, seit Ahmed Sinai einmal von einer Hand geschlagen wurde, die Geier fallen gelassen hatten, immer für Sachen anfällig gewesen, die vom Himmel fallen, und die Blitze aus heiterem Himmel waren nur noch ein Jahr entfernt.
    Nach der Nachricht vom Tod meines Großvaters und dem Eintreffen von Ehrwürdiger Mutter in Pakistan begann ich wiederholt von Kaschmir zu träumen; nie war ich in den Gärten von Shalimar spazieren gegangen – nun tat ich das des Nachts im Traum; ich glitt in Schikaras dahin und erstieg den Hügel von Sankara Acharya, wie mein Großvater es getan hatte; ich sah Lotoswurzeln und Berge wie zornige Rachen. Auch das kann als eine Form der Teilnahmslosigkeit betrachtet werden, die uns schließlich alle befiel – außer Jamila, die Gott und Vaterland hatte, die sie antrieben –, als mahnende Erinnerung daran, dass meine Familie weder richtig zu Indien noch zu Pakistan gehörte. In Rawalpindi trank meine Großmutter rosafarbenen
kaschmirischen Tee, in Karatschi wurde ihr Enkel von den Wassern eines Sees umspült, den er nie gesehen hatte. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis sich der Traum von Kaschmir in die Köpfe der restlichen Bevölkerung Pakistans ergoss; die Verbindung mit der Geschichte ließ nicht von mir ab, und 1965 stellte ich fest, dass mein Traum Gemeinschaftseigentum der Nation wurde und ein Faktor von herausragender Bedeutung für das kommende Ende, bei dem alle möglichen Dinge vom Himmel fielen und ich endlich gereinigt wurde.
     
    Tiefer konnte Saleem nicht sinken: Ich konnte an mir selbst den Jauchegestank meiner Laster riechen. Ich war ins Land der Reinen gekommen und hatte die Gesellschaft von Huren gesucht – als ich mir ein neues, rechtschaffenes Leben hätte aufbauen müssen, brachte ich stattdessen eine unaussprechliche (und unerwiderte) Liebe hervor. Der große Fatalismus, der mich dann ganz und gar überwältigen sollte, fing an, Besitz von mir zu ergreifen, und ziellos fuhr ich auf meiner Lambretta durch die Straßen der Stadt; Jamila und ich gingen einander so weit wie möglich aus dem Weg und waren zum ersten Mal in unserem Leben nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort miteinander zu wechseln.
    Reinheit – dieses höchste aller Ideale!, diese engelhafte Tugend, nach der Pakistan benannt war und die aus jeder Note

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