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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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der Lieder meiner Schwester triefte! – schien sehr weit weg; wie hätte ich wissen können, dass die Geschichte – in deren Macht es steht, den Sündern zu vergeben – zu diesem Zeitpunkt unaufhaltsam auf einen Augenblick zusteuerte, in dem es ihr gelingen würde, mich mit einem Streich von Kopf bis Fuß zu reinigen?
    Unterdessen tobten andere Kräfte sich aus; Alia Aziz hatte begonnen, ihre fürchterliche Altjungfernrache zu nehmen.
     
    Tage in Guru Mandir: Paangerüche, Küchendünste, der schwüle Duft des Minarettschattens, der lang deutende Finger der Moschee:
der Hass meiner Tante Alia auf den Mann, der sie verlassen, und auf die Schwester, die ihn geheiratet hatte, wuchs sich zu etwas Fassbarem, Sichtbarem aus, er saß wie ein großer Gecko auf ihrem Wohnzimmerteppich und stank nach Kotze. Aber ich schien der Einzige zu sein, der ihn roch, denn Alias Talent zur Verstellung hatte genauso geschwind zugenommen wie die Haare auf ihrem Kinn und ihre Tüchtigkeit im Umgang mit den Pflastern, mit denen sie jeden Abend ihren Bart mitsamt den Wurzeln ausriss.
    Der Beitrag meiner Tante Alia zum Schicksal der Nationen – durch ihre Schule und ihr College – darf nicht gering geschätzt werden. Da sie die Frustrationen einer alten Jungfer in den Lehrplan, in die Backsteine und auch in die Studenten ihrer beiden Erziehungsinstitutionen hatte einfließen lassen, hatte sie einen Stamm von Kindern und jungen Erwachsenen herangezogen, der sich von einer uralten Rachsucht besessen fühlte, ohne genau zu wissen, warum. O allgegenwärtige Unfruchtbarkeit jungfräulicher Tanten! Sie säuerte den Anstrich an ihrem Haus, und die harte Füllung der Bitterkeit machte ihre Polstermöbel klumpig; die Verdrängungen einer alten Jungfer wurden in Vorhangsäume eingenäht wie einst vor langer Zeit in die Babykleidung von ... Bitterkeit, die aus den Spalten der Erde hervorkroch.
    Was meiner Tante Alia Vergnügen bereitete: Kochen. Was sie in der einsamen Verrücktheit der Jahre in den Rang einer Kunstform erhoben hatte: das Schwängern von Essen mit Gefühlen. Hinter wem ihre Leistungen auf diesem Gebiet zurückblieben: meiner alten Ayah, Mary Pereira. Von wem inzwischen die beiden erfahrenen Köchinnen übertroffen worden sind: von Saleem Sinai, Chefpickler in der Braganza-Picklesfabrik ... nichtsdestoweniger fütterte sie uns, solange wir in ihrer Villa in Guru Mandir wohnten, mit den Birianis der Zwietracht und den Nargisi Koftas des Missklangs; und nach und nach traten deswegen sogar in der harmonischen herbstlichen Liebe meiner Eltern Dissonanzen auf.
    Doch auch Gutes muss über meine Tante gesagt werden. In
der Politik sprach sie sich lauthals gegen eine Regierung vermittels militärischer Befehlsgewalt aus; hätte sie nicht einen General zum Schwager gehabt, hätte man ihr wahrscheinlich die Leitung von Schule und College entzogen. Ich will sie nicht nur durch die dunkle Brille meiner privaten Verzweiflung zeigen: Sie hatte Vortragsreisen in die Sowjetunion und nach Amerika absolviert. Auch schmeckte ihr Essen gut (trotz seiner verborgenen Ingredienzien).
    Aber die Luft und das Essen in diesem moscheenbeschatteten Haus begannen ihren Tribut zu fordern ... in Verwirrung gestürzt, zum einen durch seine schreckliche Liebe und zum anderen durch Alias Essen, begann Saleem jedes Mal wie eine rote Bete zu erröten, wenn seine Schwester in seinen Gedanken auftauchte, während Jamila, ohne es zu wissen, von Sehnsucht nach frischer Luft und nach Speisen ergriffen, die nicht mit dunklen Emotionen gewürzt waren, immer weniger Zeit dort verbrachte und stattdessen kreuz und quer durchs Land reiste (aber nie in den Ostflügel), um ihre Konzerte zu geben. Bei den zunehmend seltener werdenden Gelegenheiten, bei denen Bruder und Schwester sich im selben Zimmer fanden, sprangen sie aufgeschreckt einen Zentimeter vom Boden hoch und starrten bei der Landung wütend die Stelle an, von der sie hochgesprungen waren, als sei sie plötzlich heiß wie ein Backofen geworden. Zu anderen Zeiten leisteten sie sich ein Verhalten, dessen Bedeutung in die Augen gesprungen wäre, wenn die übrigen Hausbewohner nicht andere Dinge im Kopf gehabt hätten: Jamila gewöhnte sich beispielsweise an, ihren weiß-goldenen Reiseschleier auch im Haus zu tragen, selbst wenn ihr vor Hitze schwindlig wurde, bis sie sicher war, dass ihr Bruder ausgegangen war; während Saleem, der ihr weiterhin wie ein Sklave gesäuertes Brot aus dem Nonnenkloster Santa Ignatia

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