Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Rotznase und Fleckengesicht und Kahlkopf und Schnüffler und Kartengesicht und Wäschetruhen und Evie Burns und Sprachmärschen, befreit vom Kolynos-Kind und den Brüsten von Pia Mumani und Alpha und Omega, freigesprochen von den mehrfachen Morden an Homi Catrack und Hanif und Aadam Aziz und Ministerpräsident Jawaharlal Nehru, ich habe fünfhundertjährige Huren und Liebesgeständnisse mitten in der Nacht abgeschüttelt, bin frei nun, über alle Sorgen erhaben, krache auf den Asphalt, habe Unschuld und Reinheit dank einem herabstürzenden Stück vom Mond wiedererlangt,
bin sauber geschrubbt wie eine Wäschetruhe aus Holz, und mein Kopf ist eingeschlagen (genau wie vorhergesagt) vom silbernen Spucknapf meiner Mutter.
Am Morgen des 23. September gaben die Vereinten Nationen das Ende der Feindseligkeiten zwischen Indien und Pakistan bekannt. Indien hatte weniger als 750 Quadratkilometer pakistanischen Bodens besetzt, Pakistan hatte nicht mehr als 500 Quadratkilometer seines kaschmirischen Traums erobert. Es hieß, die Waffenruhe sei zustande gekommen, weil beiden Seiten mehr oder minder gleichzeitig die Munition ausgegangen sei; somit hatten die Erfordernisse der internationalen Diplomatie und die politisch motivierten Machenschaften der Waffenlieferanten die vollständige Auslöschung meiner Familie verhindert. Einige von uns überlebten, weil niemand unseren potentiellen Mördern die Bomben Kugeln Flugzeuge verkaufte, die zu unserer vollständigen Vernichtung nötig gewesen wären.
Sechs Jahre später jedoch kam es zu einem weiteren Krieg.
BUCH III
Der Buddha
Offensichtlich (denn sonst müsste ich an dieser Stelle eine phantastische Erklärung für meine anhaltende Anwesenheit in diesem «irdischen Jammertal» einfügen) können Sie mich zu denen zählen, die der Krieg von 65 nicht auslöschte. Saleem, dem ein Spucknapf den Schädel verletzt hatte, war bloß partiell lädiert, wurde nur rein gewischt, während andere, weniger Glückliche, weggewischt wurden; bewusstlos im nächtlichen Schatten einer Moschee liegend, wurde ich gerettet, weil die Munitionslager leer waren.
Tränen – die, in Abwesenheit kaschmirischer Kälte, keinerlei Chance haben, sich zu Diamanten zu verhärten – strömen über die an füllige Busen erinnernden Wangen Padmas. «O Herr, dieser Kriegs-Tamasha tötet die Besten, hinterlässt die Schwächsten!» Ihr Gesicht sieht aus, als seien vor kurzem ganze Horden von Schnecken von ihren geröteten Augen abwärts gekrochen und hätten ihre klebrig glänzenden Spuren darauf hinterlassen, als sie meinen durch Bomben platt gedrückten Clan betrauert. Meine Augen bleiben wie gewöhnlich trocken, und ich weigere mich mit Anstand, auf die unbeabsichtigte Beleidigung einzugehen, die in Padmas tränenreichem Ausruf steckt. «Trauere um die Lebenden», weise ich sie sanft zurecht. «Die Toten haben ihren Kampfergarten. »Gräme dich um Saleem! Dem der Zutritt zum himmlischen Rasen verwehrt blieb, weil sein Herz immer noch schlug, und der wieder einmal inmitten der klammen Metallgerüche einer Krankenhausstation erwachte, für den es keine Huris, unberührt von Mensch und Dschinn, gab, die die versprochenen Tröstungen der Ewigkeit bereithielten – ich konnte von Glück sagen, dass mir die widerwilligen, mit Bettpfannen klappernden Dienstleistungen eines
massigen Pflegers zuteil wurden, der, während er mir den Kopf verband, sauertöpfisch murmelte, dass, Krieg hin oder her, die Doktor Sahibs sonntags gern zu ihren Strandhütten hinausführen. «Sie wären besser noch einen Tag bewusstlos gewesen», äußerte er, bevor er weiterzog, um auch in anderen Krankensälen gute Laune zu verbreiten.
Gräme dich um Saleem – der, verwaist und gereinigt, der hundert täglichen Nadelstiche des Familienlebens beraubt, die allein aus dem wie ein Ballon aufsteigenden Phantasiegebilde der Geschichte die Luft lassen und es auf einen leichter zu handhabenden menschlichen Maßstab bringen konnten, mit den Wurzeln ausgerissen und unsanft über die Jahre hinweggeschleudert worden war, dazu bestimmt, ohne Erinnerungen in ein Erwachsenendasein zu stürzen, das in jeder Beziehung mit jedem Tag grotesker wurde.
Frische Schneckenspuren auf Padmas Wangen. Da ich mich gezwungen sehe, sie irgendwie zu trösten und auf andere Gedanken zu bringen, nehme ich Zuflucht bei der Filmvorschau. (Wie ich sie im alten Metro-Kinderklub liebte! O Schmatzen der Lippen beim Anblick des Titels NÄCHSTE ATTRAKTION, der auf gerafften
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