Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Shaheed Farooq starren ihn verblüfft an. «Versucht bloß nicht, ihm den wegzunehmen», Hauptfeldwebel Najmuddin zeigt auf den Spucknapf. «Das macht ihn wild.» Ayooba setzt an: «Sir Sir, ich dachte, Sie hätten gesagt, drei Personen und ein ...», doch Najmuddin bellt: «Keine Fragen. Bedingungslos gehorchen. Das ist euer Spürhund; das ist alles. Wegtreten!» Zu der Zeit waren Ayooba und Farooq sechzehneinhalb Jahre alt. Shaheed (der nicht sein richtiges Alter angegeben hatte) war vielleicht ein Jahr jünger. Weil sie so jung waren und noch keine Zeit gehabt hatten, die Art Erinnerung zu erlangen, die Menschen die Herrschaft über die Realität verschafft, wie zum Beispiel die Erinnerung an Liebe oder an Hungersnot, waren die Kindersoldaten höchst empfänglich für Legenden und Klatschgeschichten. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden und im Verlauf von Unterhaltungen mit anderen HESPNAT-Einheiten im Speisesaal war der Menschenhund vollkommen mythologisiert ... «Aus einer wirklich bedeutenden Familie, Mann!» –«Das schwachsinnige Kind, sie haben ihn in die Armee gesteckt, damit ein Mann aus ihm wird!» –«Hatte 65 eine Kriegsverletzung, Yaar, kann oder will sich nicht daran erinnern!» –«Hört mal, ich hab’ gehört, er ist der Bruder von ...» –«Nein, Mann, das ist verrückt, sie ist gut, weißt du, so schlicht und heilig, wie könnte sie ihren Bruder im Stich lassen?» –«Auf jeden Fall weigert er sich, darüber zu reden.» –«Ich hab’ was Schreckliches gehört; sie hat ihn gehasst, Mann, deshalb!» –«Erinnert sich an nichts, interessiert sich nicht für Menschen, lebt wie ein Hund!» –«Aber das mit dem Spurensichern stimmt wirklich? – Seht ihr, was er für eine Nase hat?» –«Ja, Mann, er kann jeder Spur auf Erden folgen!» –«Durch Wasser, Baba, über Felsen. So einen Spürhund habt ihr noch nie gesehen!» –«Und er kann nichts fühlen! Das stimmt wirklich! Taub, ich schwör’s, von Kopf bis Fuß taub! Wenn du ihn berührst, merkt er es noch nicht einmal – nur am
Geruch erkennt er, dass du da bist!» –«Muss die Kriegsverletzung sein!» –«Aber dieser Spucknapf, Mann, wer weiß? Den schleppt er überall mit sich herum wie ein Liebespfand!» –«Ich sag’ euch, ich bin froh, dass es euch drei erwischt hat; der macht mir eine Gänsehaut, Yaar, mit seinen blauen Augen.» –«Wisst ihr, wie sie das mit seiner Nase herausgefunden haben? Er ist einfach in ein Minenfeld gelaufen, Mann, ich schwör’s, und hat sich einen Weg hindurch gesucht, als könnte er die verdammten Minen riechen!» –«Ach was, Mann, was du da erzählst, ist doch eine alte Geschichte, das war der erste Hund in dem ganzen HESPNAT-Unternehmen, dieser Bonzo, Mann, bring uns nicht durcheinander!» –«He, du, Ayooba, du passt besser auf, was du tust; man sagt, ein paar ganz hohe Tiere haben ein Auge auf ihn!» –«Ja, ich hab’s dir ja gesagt, Jamila die Sängerin ... » –«Ach, halt den Mund. Wir haben genug von deinen Märchen!»
Nachdem sich Ayooba, Shaheed und Farooq mit ihrem seltsamen gefühllosen Spürhund abgefunden hatten (nach dem Vorfall bei den Latrinen), gaben sie ihm den Spitznamen Buddha, «alter Mann»; nicht nur, weil er sieben Jahre älter sein musste als sie und tatsächlich 1965 an dem Krieg-von-vor-sechs-Jahren teilgenommen hatte, als die drei Kindersoldaten noch nicht einmal lange Hosen trugen, sondern auch, weil ihn der Nimbus hohen Alters umgab. Der Buddha war vor seiner Zeit alt.
O trefflicher phonetischer Doppelsinn! Das Urdu-Wort «buddha» mit der Bedeutung «alter Mann» wird mit harten, fast stimmlosen d ausgesprochen. Aber es gibt auch einen Buddha mit weichen d, was bedeutet Er-der-unter-dem-Bodhi-Baum-Erleuchtung-erlangte ... Es war einmal ein Prinz, der konnte das Leiden in der Welt nicht ertragen und erlangte die Fähigkeit, ebenso nicht in der Welt zu leben wie darin zu leben; er war gegenwärtig, aber auch abwesend; sein Körper war an einem Ort, doch sein Geist war an einem anderen. Im alten Indien saß Gautama Buddha erleuchtet unter einem Baum in Gaja; im Wildpark von Sarnath lehrte er andere, sich
vom irdischen Leiden zu befreien und inneren Frieden zu erlangen; und Jahrhunderte später saß Saleem der Buddha unter einem anderen Baum, unfähig, sich an Schmerz zu erinnern, gefühllos wie Eis, rein gewischt wie eine Schiefertafel ... Etwas verlegen muss ich zugeben, dass Gedächtnisverlust zu den Tricks gehört, die unsere
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